Ana
Ana schiebt den
dröhnenden Staubsauger in gleichmäßigen Bahnen über ihren hellen Teppich in der
guten Stube. Ihr lockiges, kurz geschnittenes, dunkles Haar verdeckt ihr
Gesicht. Ihre Seele ist auf Wanderschaft, ihre Augen sind mit, ihr Gehör. Nur
ihr Körper ist da geblieben und staubsaugt.
Durch ein helles,
nur zu bekanntes und etwas ordinäres Lachen wird sie aus ihren Träumen
gerissen.
„Große, du führst
ja Selbstgespräche!“
Es ist ihre
Schwester Marina, die plötzlich hinter ihr steht und sie mit ihrem Lachen zu Tode erschreckt. Ana zuckt zusammen, der
Staubsauger fällt ihr aus der Hand, sie dreht sich mit weit aufgerissenen Augen
zu Marina um und starrt sie mit einem Blick an, der es noch nicht geschafft
hatte, in diese Szene zurück zu kehren. Im ersten Moment weiß sie nicht, was
stärker ist, ihr Schreck oder ihre Wut darüber, dass sie ab nun für eine lange,
lange Zeit dem Spott der ganzen Verwandtschaft ausgesetzt sein wird. „Stellt
euch vor, die Große redet mit dem Staubsauger!“ Und alle lachen halb belustigt
und halb mitleidig. Ana, die Künstlerin, spricht mit dem Staubsauger. Was wird
sie ihm erzählt haben? Kicher, kicher. Das ist doch …
Dabei wollte Marina
Ana nur fragen, wann die Geburtstagsfeier losgeht. „Um Vier, wie immer.“ Ana
hat einen gequälten Ausdruck in der Stimme und man kann nicht unterscheiden, ob
es noch vom Schreck ist oder ob in Anbetracht der vielfältigen Vorbereitungen,
die sie in den verbleibenden fünf Stunden zu bewältigen hat. Marina, in
Arbeitsschuhen, war ja nur auf einen Sprung aus der Werkstatt hoch gekommen,
und sie hatte prompt Spuren hinterlassen.
„Tut mir Leid, Große, hier musst du noch mal
lang. Kannst es ja dem Staubsauger vorher sagen.“
Sie kichert, ein
bisschen verunsichert klingt es ja immerhin, und beeilt sich weg zu kommen.
Ana ist ärgerlich
über die Unterbrechung ihres schönen Traumes. War sie doch noch vor wenigen
Augenblicken richtig glücklich gewesen. Sie hatte mit ihrem glücklichen Ich,
mit der freien, selbständigen, unverheirateten und kinderlosen Ana in einem
sonnendurchfluteten Zimmer mit glänzendem hellen Parkett auf unglaublich hellen
Möbeln gesessen. Einige niedrige Kommoden, ein flacher Tisch zwischen ihnen und
wundervolle, grellbunte Bilder an den Wänden bildeten den Rahmen für ihr
liebevolles und zärtliches Gespräch. Sie rauchten edle und teure Zigaretten aus
schlichten, langen Zigarettenspitzen aus
Ebenholz, sie tranken Mokka aus goldenen Tässchen. Sie redeten über ihr
gemeinsames Bild der Träume, das im Nebenraum auf der Staffelei stand und an dem
sie dann später, nach der Pause, weitermalen würden. Sie konnten sich nicht
recht einig werden, wie sie das Bild verbessern könnten. Es war im Gunde
genommen fertig, aber gleichzeitig unfertig wie kein zweites in ihrem kleinen
Atelier. Etwas sehr wichtiges fehlte, doch beide konnten nicht aussprechen, was
es war. Jede konnte es fühlen, jedoch nicht in Worte fassen. Mitten in ihre
Diskussion hinein war Marina gepoltert. Und jetzt kann Ana es sich aus
Zeitgründen nicht mehr leisten, nochmals in dieses Zimmer zu gehen. Sie muss
Salate für den Abend machen, Torten belegen, den Kaffeetisch decken und all das
tun, weswegen sie soeben aus tiefster Seele gestöhnt hatte.
Wie immer versucht
sie, um Zeit zu sparen, alles parallel abzuwickeln. Und wie immer geht dabei
einiges schief. Der Tortenguss muss in dem Moment vom Feuer, in dem es an der
Tür klingelt. Die Kinder kommen aus der Schule und wollen essen. Sie meckern,
dass es Kartoffelsuppe gibt, weil sie die nicht mögen und es sei ihnen sowieso
egal, warum es Kartoffelsuppe gibt. Sie wollen sie eben einfach nicht. Und dann
essen sie den Topf leer und kratzen zu allem Überfluss mit der Kelle auf dem
Boden herum, um zu signalisieren, dass sie noch lange nicht satt sind. Es hat
natürlich einen Grund, ihr Gekratze. Sie erhoffen sich zwanzig Pfennig für
jeden und die Erlaubnis, im Konsum Eis am Stiel kaufen zu dürfen. Doch die
Hoffnung platzt, als Ana kalt sagt: „Wenn ihr noch Hunger habt, dann mach’ ich euch
’ne Stulle.“
“Keine Stulle!“
rufen die Kinder, ergreifen ihre Schulranzen, die sie einfach auf den Boden
geschmissen hatten und flüchten in ihre Zimmer. Ana versucht nebenbei den hart
gewordenen Tortenguss wieder zu beleben und merkt gar nicht, dass weder der
Tisch abgeräumt noch die Wachstuchdecke abgewischt wird.
Wehmütig denkt sie
an die neue „Wochenpost“ auf dem Wohnzimmertisch, während sie mit der Majonäse
kämpft, die mal wieder gerinnt wie immer, wenn Gäste kommen. Auch die Majonäse
kann Feiern nicht leiden. Ana grinst bei dem Gedanken, da wird sie leicht am Rock
gezupft. „Mami …“ Ihre kleine Tochter Lena schielt mit ihren großen braunen
Augen unter dem Pony hervor „ich wollte doch noch den Tisch abräumen …“. „Na,
mach’s doch!“ lacht Ana. Lena ganz
verblüfft: „Hast du noch nicht?“ „Nein, mein Schatz, das hab ich für dich
gelassen.“ „Ooch, na gut.“ Damit hatte die Süße natürlich nicht gerechnet doch sie
macht sich an die Arbeit.
Das Chaos in Anas
Küche nähert sich dem Höhepunkt und sie sieht keinen anderen Ausweg, als sich
erstmal eine kleine, billige Zigarette anzuzünden – für bessere reicht das
Wirtschaftsgeld nicht – um die eingetretene Situation zu überdenken, als die
Wohnungstür derb geöffnet wird. Ana stöhnt. Ade, kleine Pause. Doch niemand
schaut zu ihr herein. Auch gut, denkt sie und nimmt einen tiefen Zug.
Andererseits weiß sie, dass diese Ruhe nur Stunk bedeuten kann. Fritz, der sie
heute früh sogar mit einem richtig lieben Lächeln begrüßt hat, muss wieder
einen seiner dreihunderttausend schlechten Tage gehabt haben. Ana hofft nur
inbrünstig, dass es die Geburtstagsfeier nachher nicht mit Stänkern verdirbt.
Unübersichtliche
Geschirrberge türmen sich auf jeder freien Fläche. Am schlimmsten sind die
Gläser, weil man sie nicht stapeln kann. Ana verdichtet das Chaos noch ein
wenig, wobei sie ungewollt einen Römer opfert. Ausgerechnet, denkt sie, und
kehrt die Scherben zusammen. Auf der frei gemachten Fläche beginnt sie das
Mittagessen vorzubereiten. Jede andere Frau würde sich jetzt in stille Vorwürfe
versenken, weil sie so lange mit dem Aufräumen der Küche gezögert hatte, Ana
nicht. Ergeben in ihr Schicksal, jeden Tag Mittagessen für Fritz und die Kinder
kochen zu müssen, schnippelt sie Gemüse
und Kartoffeln und hofft ziemlich leidenschaftslos, dass das Essen Fritz nicht
schmecken möge, aber den Kindern. Immerhin hatte er sich am gestrigen
Nachmittag und Abend genau so benommen, wie Ana es befürchtet hatte. Es ging
los wie immer. Er sagte, als einige noch beim Essen und die anderen schon bei
Zigarre, Zigarette und Cognac waren,
dass er sich überhaupt nicht vorstellen könne, der Opa sei ohne Schmerzen von
uns gegangen, was wiederum die Oma, also Anas Mutter natürlich umso frenetischer
verteidigte. Das ging wie immer so lange, bis ein Teil der Gästeverwandtschaft
die Feier weit vor dem Abendessen verließ, so dass man wieder die ganze Woche
mit der Vertilgung diverser Delikatessen verbringen würde. Vertilgung ist das
richtige Wort, denn von Genuss kann man nicht mehr sprechen, wenn es noch am
Samstag gefüllte Eier, Tomaten oder Schinkenröllchen gibt, auch wenn die am
Montag noch so lecker waren.
Deshalb hat er sich
unschmackhaftes Essen verdient. Ana wünscht sich zum wievielten Mal? Geld! Und
zwar viel Geld. Soviel, dass sie sich eine Putzfrau leisten könne und nicht mit
dem ganzen Dreck, besonders nach solch einer Feier, wenn auch mit halbierter
Gästeschar, alleine da stünde. Über das Geld, das die vielen schließlich nicht
benötigten Lebensmittel gekostet hatten, macht sie sich komischerweise keine
Gedanken. Für eine Feier muss mehr als genug zu essen und zu trinken da sein.
Das ist so. Man kann ja nie wissen, ob es auch einmal alle bis zum Schluss
aushalten und dann könnte das Essen nicht reichen und das wäre eine noch
größere Schande, als das Stänkern vom Fritz.
Barfuss steht
Johannes auf den kalten Fliesen und beobachtet seine Mutter. „Jonny!“ ruft Ana
entsetzt aus. „Du holst dir den Tod! Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du
Hausschuhe anziehen sollst!“ Jonny macht kehrt, um die Hausschuhe zu holen.
„Ich bin doch schon krank!“ krächzt er,
hustet ein paar Mal rasselnd, steht gleich darauf wieder da, dieses Mal mit
Hausschuhen, dafür mit laufender Nase. „Das Taschentuch!“ seufzt die Mutter.
„Wo?“ Johannes schaut sich um und Ana weiß wieder einmal nicht, ob er sie
verarscht. „Los, putz dir die Nase!“
„Ich hab Hunger“
nörgelt der Sohn „und Durst“.
„Warum bist du
eigentlich nicht in der Schule?“ so langsam dämmert es Ana, dass in der Nacht
irgendwas los war. Sie hatten ziemlich viel Sekt getrunken, Fritz’ Laune war
von Glas zu Glas anschmiegsamer geworden und schließlich hatten sie, als die
Feier gegen zwei Uhr ein Ende gefunden hatte und nachdem die restlichen Gäste
reichlich getrunken hatten und einer nach dem anderen gegangen war, miteinander
geschlafen. Fritz hatte sich nicht lange mit Zärtlichkeiten aufgehalten, sein
Lustpegel erlaubte kein großartiges Vorspiel, währenddem sie so wenig Verlangen
hatte, wie selten. Trotzdem versuchte er, sie zu begeistern. Es lief, wie immer,
nach demselben Muster ab: Sobald sie ein bisschen stöhnt, sucht er sich eine
neue Stelle ihres Körpers aus. Er
glaubt, so ihre Lust bis ins Unermessliche zu steigern. Aber es ist ja noch gar
nichts da, was man steigern könnte. Dieses Spiel kennt Ana von jenem anderen
Mann mit dem Unterschied, dass er es spielte, wenn sie wirklich schon total
erhitzt war und dass er sie damit wirklich fast zum Wahnsinn treiben konnte. Fritz
schafft es erst gar nicht bis dahin und das Resultat ist immer wieder dasselbe.
Er hält sich krampfhaft zurück indem er dasselbe Spiel auch mit sich spielt, um
dann fast unmerklich in einen gedämpften Orgasmus zu gleiten und Ana bleibt
wortwörtlich auf der Strecke.
Diese heiße
Leidenschaft, die sie mit dem Anderen erlebt hatte, die vermisst sie am meisten
bei Fritz. Der Andere konnte einfach gut ficken. Niemals würde Ana das so
sagen, aber sie denkt es leider zu oft. Allein das Denken dieses Satzes gibt ihr eindeutige Impulse,
doch die werden von Fritz schön sachte weggestreichelt.
Als sie gestern
Nacht noch mal ins Bad wollte, Fritz war danach sofort in sein gewohntes Schnarchen
gefallen, hörte sie Jonny im Kinderzimmer wimmern. Er habe Halsschmerzen,
weinte er und seine Stirn fühlte sich heiß an. Ana holte ihm kalten Tee ans
Bett, gab ihm eine Tablette, tröstete ihn und sagte ihm noch, dass er am Morgen
zu Hause bleiben solle. Sie würde ihm eine Entschuldigung schreiben. Mit dieser
guten Aussicht schlief der Sohn wieder ein, Ana später auch und im Gegensatz zu
ihm vergaß sie sogar den nächtlichen Krankendienst und ihre großzügige Zusage.
Sie schickt ihn in
sein Zimmer, damit er sich einen Bademantel und Socken anziehen solle, schmiert
ihm ein Brötchen mit Honig und kocht ihm Kakao. Das Brötchen darf sie schließlich
selber essen, weil es natürlich viel zu hart ist für einen kleinen Jungen mit
Halsschmerzen und sie kocht ihm als Ersatz schnell einen klumpigen Haferbrei, Das
Kind bekommt ein schmales Plätzchen am übervollen Küchentisch und Ana beginnt
endlich mit den Abwasch.
Trotz Husten und
Halsschmerzen hat Jonny eine Menge zu erzählen. Es geht irgendwie um die Schule
und um einen Freund, der jetzt einen anderen Freund hat und der geklaut hat.
Ana hört jedoch nicht so ganz genau zu. Sie hat es sich im Laufe der Jahre
angewöhnt, in unregelmäßigen Abständen „hmm“ zu sagen. Damit waren die Kinder
zufrieden und sie hatte weitgehend ihre Ruhe. Auf der Hut sein muss sie nur bei
einer längeren Gesprächspause, die meist ein Zeichen dafür ist, dass ihre geistige
Abwesenheit bemerkt wurde und sie alsbald mit unseriösen Fragen getestet wird,
zum Beispiel, ob sie ab nächste Woche zehn Mark Taschengeld kriegen. Das wäre
bei ihren fünf Mark im ganzen Monat eine beträchtliche Gehaltserhöhung.
Natürlich warten sie nach der Frage auf Ana’s
Hmm. Durch das Warten entsteht die
erwähnte Gesprächspause die es zu erkennen gilt, weil sie anderenfalls
natürlich nicht mehr Taschengeld auszahlen würde, sich dafür aber glaubwürdige
Ausreden für ihre Abwesenheit ausdenken müsste, denn ihre Kinder sind ja nicht
dumm. Sie wollen schon gebührend beachtet werden. Ja.
Aus Jonny
plätschert es unverdächtig und leicht heiser hervor, Ana steckt mit beiden
Händen im warmen Wasser und nimmt mechanisch ein Glas nach dem anderen vom
Tisch, um es zu waschen, dann zu spülen und zum Abtropfen auf ein Tuch zu
stellen.
Ihre Gedanken waren
über Jonnys unerwartete vormittägliche Anwesenheit und den für Anas Temperament
zu weichlichen Sex mit Fritz hin zu dem Fremden
gezogen um bei ihm zu verweilen. Mit ihm hatte Ana vor vielen Jahren eine
ebenso kurze wie heftige und leidenschaftliche Affäre. Ausgerechnet beim Zug
fahren hatte sie ihn kennen gelernt. Sie, die bis dahin nur zweimal in ihrem
Leben eine längere Zugfahrt absolviert hatte, konnte somit fünfzig Prozent
ihrer Bahnerlebnisse als vollen Erfolg verbuchen. Es war eine lange Fahrt in
der Nacht. Sie waren allein an einem Abteil für sechs Passagiere. Er war viel
jünger als sie. Sie wollte etwas aus dem Gepäcknetz nehmen, er sprang auf um
behilflich zu sein, streifte dabei nur mit seiner Brust ihren Rücken und das
reichte aus, ihr einen prickelnden Schauer durch den Körper zu jagen. Sie
wandte ihm ihr Gesicht zu, ohne sich von seinem Körper zu lösen, lächelte ihn
unsicher an und beide setzten sich wieder hin. Er setzte sich ihr jedoch jetzt genau
gegenüber, während er davor auf dem mittleren Platz gesessen hatte. Sie hatte
auf dem Fensterplatz gesessen. Beide lehnten sich bequem zurück. Wie zufällig
berührten sich ihre Beine. Sie zogen sie nicht weg. Sie nannten sich
gegenseitig ihre Namen, Ana erzählte, dass sie auf dem Weg an die See sei. Sie
hatte sich diese Reise in zwei Jahren zusammengespart. Claudio war auch auf dem
Weg in die Ferien. Er war Student, hatte Semesterferien und wollte ins Haus
seiner Eltern, das seit deren Tod leer und verlassen in dem kleinen Fischerdorf
immer mehr verwahrloste. Jedes Jahr nahm sich Claudio für ein paar Wochen Zeit,
das Haus einigermaßen auf Vordermann zu bringen und sich von der Großstadt zu
erholen. Nirgendwo sonst auf der Welt, sagte er, wäre es je so für ihn gewesen,
wie in diesem Haus. Und das obwohl er, als er sechzehn war, keinen größeren
Wunsch hatte, als die enge Insel und das winzige Dorf zu verlassen. In dem Dorf
passierte überhaupt nichts und es gab vor allen Dingen kein Mädchen, mit dem er
nicht schon seit der Sandkastenzeit befreundet gewesen wäre.
Nachdem er in der
weiten Welt, sprich in Berlin und Rostock, viele Frauen kennen gelernt und mehr
aufregendes erlebt hatte, als ihm lieb war, sehnte er sich eines Tages mit der
selben Intensität, die ihn einst weggetrieben hatte, nach Hause zurück. Damals
lebte seine Mutter bereits allein. Der Vater war von einer Rettungsaktion auf
dem Meer nicht zurückgekehrt. Das kam so. Die Jugendlichen des Dorfes waren an
einem stürmischen Herbsttag mit einem kleinen Boot zu einer der winzigen
unbewohnten Inseln unterwegs. Es sollte eine Art Mutprobe sein. Ein Unwetter
zog auf und kein Mensch wusste, ob die Kinder angekommen waren, ob sie sich in
Sicherheit bringen konnten, oder auf dem Meer trieben. Das ganze Dorf befand
sich in Aufruhr. Claudios Vater und vier andere Männer machten sich im besten
Kutter, den es in der ganzen Gegend gab, auf die Suche nach den sieben Jungen
und vier Mädchen, alle im Alter zwischen Zwölf und Fünfzehn. Die Kinder hatten
die Insel zum Glück noch erreichen können, sie fanden Unterschlupf im Dickicht
der Bäume, wurden durchnässt und alle krank, aber sie kamen mit dem Leben
davon. Die Männer auf dem Kutter gerieten in Seenot, ihr Schiff wurde
manövrierunfähig und einen von ihnen erwischte die See. Claudios Vater.
Die Mutter blieb
allein in dem Haus. Sie war sehr einsam und lebte nicht mehr lange. Nachdem Claudio
das Heimweh nach seinem Elternhaus gepackt hatte, sah er die Mutter gerade noch
zwei Sommer. Sie starb in der Nacht, in der Claudios Tochter geboren wurde. Er
war unsterblich in eine Kommilitonin verliebt gewesen, sie hatten ein einziges
Mal miteinander geschlafen und am anderen Tag ist die junge Frau für zwei Jahre
ins Ausland gegangen. Sie hatte sich nicht einmal verabschiedet. Claudio war
darüber untröstlich, vernachlässigte sein Studium, trieb sich in Kneipen herum
und war kurz davor auf die schiefe Bahn zu geraten. Mit der Zeit hat er sich an
sein Schicksal gewöhnt. Nun ist diese Frau nach Deutschland zurückgekommen. Sie
ist verheiratet und hat ein Kind. Sein Kind. Seine kleine Tochter. Das hat sie
ihm gesagt. Das Kind heißt Maria. Sie hat es nach Claudios Mutter benannt.
Claudio hatte
abrupt aufgehört zu reden. Er sah Ana in die Augen. „Du bist wie sie“ sagte er.
Und „ich könnte mich in dich ebenso
verlieben, weißt du das?“
„Claudio“, Ana
musste schlucken und sich eine kleine Träne wegwischen, „ich bin versprochen.
Also ich will sagen, ich bin verlobt. Weihnachten werden wir heiraten.“
Der junge Mann
presste die Lippen aufeinander und nickte. „Okay, Ana, okay.“ Und da geschah etwas, das sich Beide danach nicht
erklären konnten.
Auf ein geheimes
Zeichen hin standen beide gleichzeitig auf, lächelten verlegen, fassten sich
bei den Händen und küssten sich unendlich zärtlich. Er umfasste ihre Schultern,
zog sie eng an sich heran, sein Kuss wurde fester und leidenschaftlicher. Sie
spürte sein hartes Glied an ihrem Bauch. Unter dem Pulli tastete er nach ihrer
Brust und ließ einen Finger um die Brustwarze kreisen. Ana stöhnte auf vor Lust
und presste sich mit aller Kraft an ihn. Während sie nicht innehielten sich zu
küssen, öffnete sie seine Hose, er hob sie nach oben und ihr Verlangen ihn in
sich zu spüren wurde fast schmerzhaft. Sie liebten sich intensiv, heftig, wild.
Es gab kein „nein“, kein „warte“ es gab nur Leidenschaft und Lust. Gleichzeitig
gelangten sie zum Höhepunkt und Ana konnte einen lauten Schrei nicht
unterdrücken. Glücklicherweise fuhr im selben Moment der Zug in einen Tunnel
ein, so dass der Schrei vom Signal des Zuges übertönt wurde.
Ana suchte ihr
gebuchtes Quartier nicht einmal auf. Sie verbrachte eine Woche ungehemmter
Liebe und Leidenschaft mit Claudio. Das Bett verließen sie nur ein einziges
Mal. Zum Einkaufen. In dem Haus in dem sie eine Woche gelebt, oder besser
gesagt geliebt hatte, sah Ana sich erst an ihrem letzten Tag um.
„Mami, was hast du
denn?“ verständnislos, wie von einem anderen Stern starrt Ana ihren Sohn an.
Zähflüssig kehren ihre Gedanken in die Gegenwart zurück. Immer noch abwesend,
mit dem Blick ins Nichts, lächelt sie. Sie wendet das Gesicht ihrem Jungen zu
und ist jetzt wieder zu Hause.
„Nichts, was soll
ich denn haben?“
„Du hast mir gar
nicht zugehört, Mami!“
„Doch, hab ich. Du
hast von Daniel erzählt.“
„Ja zuerst, dann
hab ich von unserer neuen Lehrerin erzählt.“
„So? Das hab ich
wirklich nicht gehört. Was ist denn mit ihr?“
„Sie ist so schön,
Mami.“
„Na das ist doch
prima, wenn sie dir gefällt.“
„Ja, sie gefällt
mir sehr. Aber sie gefällt auch den anderen Jungs und das ist scheiße.“
„Jonny, das sagt
man nicht.“
„Ich weiß Mami,
aber es ist wirklich scheiße.“
„Ich glaub’s dir
ja, aber nun leg dich mal wieder ins Bett, oder willst du dich anziehen?“
„Nein, ich geh ins
Bett“
Verwundert schaut
die Mutter ihrem Sohn hinterher, wie er mit hängendem Kopf und hängenden
Schultern und halboffenem Bademantel aus der Küche schlurft. Ein von
Liebeskummer gebrochener Mann, denkt sie halb belustigt, doch sie schilt sie sich gleich darauf aus und ihr
kleiner Sohn tut ihr richtig leid.
Das Auto ist bis
zum Rand voll mit Leuten und Gepäck. Alle sehen gut erholt und braungebrannt
aus und sind ein bisschen traurig, weil der Urlaub nun vorbei ist und sie der
Alltagstrott erwartet. Besonders Ana denkt mit Grausen an die Unmengen von
Dreckwäsche, die sich im Kofferraum befindet. Bettwäsche, Handtücher, Kleidung
von vier Leuten und vierzehn Tagen. Auf den Knien hält sie ihr Ölbild. Es ist
noch feucht und könnte leicht beschädigt werden. Einen ganzen Tag lang hat sie
ohne Pause an diesem Bild gemalt. Der Vorteil war, sie brauchte sich nicht ums
Mittagessen zu kümmern. Der Nachteil war, die Familie kriegte sich in die Wolle
und jede halbe Stunde kam Jemand zu ihrem Malplatz gelaufen um sie zu was
fragen oder nur zu petzen. Eine Mutter, denkt Ana, ist wirklich geplagt. Neben
der Schmutzwäsche erwarten sie noch ganz andere Freuden, die sie alle schon zur
Genüge vom Vorjahr und dem Jahr vor dem Vorjahr und von allen Jahren kennt. Sie
werden zu Hause angekommen sein, das Auto wird rasch ausgeladen, alle Koffer, Taschen und Kartons werden in der
Wohnung stehen, eine Stunde wird vergangen sein und Fritz wird im Garten alles,
was einen Stiel hat, in große Körbe geerntet und ihr zu all dem anderen
Gerümpel dazu in die Küche gestellt haben. Einwecken. Dieser Gedanke allein
macht Ana jeden Urlaub schon vor seinem Beginn zu einem Graus. Sie vertraut auf
ihren Selbsterhaltungstrieb, der ihr hoffentlich auch dieses Jahr den Ausbruch
des Wahnsinns erspart. Und sie weiß nicht wie, aber sie weiß, dass sie bis
Weihnachten mit allem fertig ist. Vielleicht schon ein paar Tage eher, denn
kurz vor Weihnachten muss sie schließlich die Puppenstube für Lena und die
Eisenbahn für Jonny herrichten. Doch daran will sie jetzt noch nicht denken.
Elke, ihre jüngste
Schwester, steht in der Tür.
„Vati hat mich
geschickt, ich soll dir helfen.“
„Ach na ja, das
musst du doch nicht“ Ana fühlt sich
gleich noch mehr gehetzt. Sie hätte gut und gerne das Obst noch einen Tag
stehen lassen können, ohne dass es Ärger gegeben hätte. Nun muss sie wohl
sofort loslegen, ob sie will oder nicht. Die Kinder setzen sich auch dazu und
kurz darauf sieht die Küche aus, wie eine industrielle
Birnenverarbeitungsanlage. Im Halbkreis sitzen die Schälerinnen. Sie schmeißen
die geschälten Birnen in eine Schüssel mit Wasser, damit sie nicht braun
werden. Ist ungefähr eine Tonne geschält, werden Spalten hergestellt, die dann
die Einweckerin, das ist immer Ana, kocht, in Gläser füllt und mit Blitz
verschließen möchte. Oft klappt es nicht, aber dann versucht sie es eben noch
mal. Manche Gläser gehen auch erst im Keller wieder auf, doch das stört heute
noch niemand. Hauptsache so schnell wie möglich so viele Birnen wie möglich zu
Birnenkompott machen. Nachts um zwölf sind immer noch Birnen in der
Wasserschüssel, unüberschaubar viele Gläser stehen auch schon kellerfertig herum
und belegen jeden freien Fleck, der gesamte Küchenboden klebt, alle haben
schrumplige Finger vom Schälen und die Kinder sind stolz, dass sie immer noch
auf sein dürfen. Es sind ja noch Ferien. Fritz, der mit der Ernte natürlich
seit Stunden fertig ist, hat schon mal ein bisschen gefeiert und sich das eine
oder andere Glas Wein gegönnt, es sind ja noch Ferien, und er kommt zu später
Stunde in die Küche, guckt stolz auf die Ausbeute des Gartenjahres und sagt
ganz milde: „Ihr müsst aber dann auch mal Schluss machen.“ Ana und Elke schauen
sich aus den Augenwinkeln heraus an und grinsen gequält. Mindestens Ana denkt:
„Ja, damit ich mit dir ins Bett komme, erholt und beschwipst wie du bist“ und
sie weiß eines genau, nämlich dass sie heute mit niemand ins Bett kommen wird.
Und wenn sie hier auf dem Küchenstuhl schlafen muss.
Ilona
Die Zahl ist nicht
groß, die Ilona auf ihrem Gehaltsstreifen sieht und sie teilt sie wie gewohnt
sofort in die nötigen und die freien Ausgaben auf. Frei kann sie über
hundertfünfzig Mark verfügen. Das andere geht ab für Miete, Essen, den Jungen.
Wobei zwar das Kindergeld für ihn noch dazu kommt, das sie aber auf dem Sparbuch anlegen wird. Sie sorgt für
den Jungen vor. Man weiß ja nie, wie es mal kommt. Vielleicht passiert ihr was
und dann ist nichts für ihn da. Wobei, ihre Eltern würden sich um ihn kümmern,
dessen ist sie sich sicher. Trotzdem beruhigt sie der Gedanke, dass ihm
wenigstens ein winziges Vermögen selbst gehören wird. Wird, denkt sie, so ein
doofer Gedanke, als wäre ich schon unter die Räder gekommen. Sie holt den
Stapel Bücher mit Schwung aus dem Regal, schlägt das erste an der markierten
Stelle auf, nimmt Kuli und Block und notiert, liest, unterstreicht. Ilona macht
ein Fernstudium, sie will Apothekerin werden. Mitten in ihre Lehre als
Krankenschwester hinein platzte Paul, der Sohn. Eigentlich platzte sie selbst,
fast jedenfalls. Diese Geburt würde sie niemand wünschen. Nicht mal der blonden
Zicke von gegenüber, die sie anschaut, als würde sie der Gosse entsteigen, wenn
sie aus der Wohnungstür tritt und die ihren Sohn, den heiß geliebten, geradezu
mit offenem Ekel anglotzt. Oder doch, der würde sie es gönnen, aber sonst
niemand. Es ging alles so schnell damals, dass ihr Körper keine Sekunde Zeit
hatte, sich zu erholen. Obwohl es das erste Kind war, sie – die Erstgebärende
mit zarten siebzehn - , ging alles Schlag auf Schlag. Sie musste selbst den
Krankenwagen rufen, denn die Eltern, bei denen sie damals noch wohnte, waren im
Geschäft. Sie betrieben eine große Bäckerei mitten in der Stadt, wohnten aber
am Stadtrand. Wenigstens ruhig war es da draußen. Doch wo sie jetzt wohnt, ist
auch nicht viel los. Alles ist ruhig in dieser Stadt.
Das Kind wäre fast
noch im Krankenwagen zur Welt gekommen. „Tun Sie mir das nicht an, junge Frau“,
sagte der Fahrer, selbst noch ein junges Bürschchen. „Es wäre mein Erstes“
„Meins ist es
auch“, erwiderte Ilona und spürte dabei die nächste Wehe auf sich zu rollen.
Der Wagen hielt einige Meter vom Eingang zur Geburtsstation entfernt an, weil
direkt am Eingang gebaut wurde. Ilona sollte doch allen Ernstes zum Eingang
laufen, die Treppen hoch, den Gang entlang … Immerhin die Tasche trug ihr das
Bürschchen. Sie schaffte zwei Meter, dann trat ein warmer Schwall zwischen
ihren Beinen heraus und lief daran hinunter. Es wollte nicht aufhören. „Hilfe,
ich verblute“ sagte sie schwach zu dem Fahrer, der schon ein Stück vor ihr war.
Der drehte sich um, erschrak sich sehr, ließ die Tasche fallen, stütze Ilona
und rief zwei der Bauarbeiter zur Hilfe: „Los, holt schnell die Trage aus dem
Auto!“
„Wie konnten sie
die junge Frau nur alleine laufen lassen!“ tadelte der betagte Arzt mit den
weißen Haaren den Fahrer, als er mit Hilfe der Bauleute Ilona hereinschleppte.
„Ich dachte, „ stammelte er „ sie ist doch eine Erstgebärende, das dauert doch
immer.“
Die letzten
Erinnerungen, die Ilona von diesem Tage hat waren ihre schlotternden Beine auf
dem Bett im Kreissaal, war die Schwester, die mit aller Kraft und spitzen
Knöcheln auf ihren Bauch drückte und war der zweite warme Schwall, mit dem das
Kind auf die Welt rutschte. Dann wurde sie ohnmächtig und das Ende der Geburt
ist ihr erst später an einem Vormittag, als sie in ihrem Bett lag und auf das
Stillen des Jungen wartete, erzählt worden.
Es folgten Fragen
nach dem Vater, den es nicht gab. Nach dem Namen. Paul soll er heißen. Paul?
Ist das nicht ein altmodischer Name. Na und? Er heißt Paul. Basta.
Mutti und Vati
kamen zu Pauls Besichtigung, ihre Schwestern kamen und als alle durch waren,
kam der Vater. Ein zwanzig Jahre älterer Mann, Familienvater wie aus dem
Bilderbuch. Er ließ sich Paul zeigen, sei ein Kollege der Mutter, sagte er den
Schwestern. Ilona brachte er Blumen und einen goldenen Ring. Die Blumen
verwelkten, sie wanderten in die Mülltonne. Der Ring passte an keinen ihrer
geschwollenen Finger, sie versenkte ihn in ihrer Handtasche und sollte ihn nie
wieder finden. Nichts blieb ihr vom Vater des Kindes. Außer diesem Blick aus
grünen Augen, den ihr Sohn drauf hat, wenn er was bei ihr erreichen wollte.
Dieser Blick wird sie noch irritieren, wenn er sie als Oma seiner Kinder zur
Nachtwache verdonnern wird, weil er und seine Frau auszugehen beabsichtigen.
Inzwischen ist Paul
fünf. Eine liebe Nachbarin kümmert sich um ihn, natürlich nicht die blonde
Zicke, wenn Ilona zweimal die Woche nach C. zum Studium fährt.
Bis spät in die
Nacht sitzt sie über den Büchern. Wenn sie müde wird, kocht sie sich einen
Kaffee und raucht eine Zigarette, obwohl sie sich das Rauchen abgewöhnen will
und macht nach einer kurzen Pause weiter.
Paul kommt in die
Schule. Er bekommt eine richtige Schuleinführung, wie in einer echten Familie,
auch wenn Ilona dafür auf ein neues Kleid zu diesem schönen Anlass verzichten
muss. Für den Sohn nimmt sie jede Entbehrung auf sich. Ihr Studium ist
inzwischen geschafft und bald wird es auch in ihrer Familienkasse besser
aussehen.
Ilona ist eine
hübsche Frau. Sehr jung, sehr schlank, das Gesicht fein geschnitten und von
dunklen Locken umrahmt. In dem Großbetrieb, in dem sie als Laborantin arbeitet,
ist jeder zweite Mann hinter ihr her. Doch keiner kann bei ihr landen. Die
meisten sind sowieso verheiratet - dieses Erlebnis hatte sie schon, und die
anderen sind ihr zu jung oder zu alt oder zu klein oder zu dick. Ihr Prinz weiß
noch nicht, dass es sie gibt. Und Ilona hat Zeit. Sie ist fünfundzwanzig, hat
einen süßen kleinen Mann zu Hause, verdient Geld, nicht genug aber immerhin und
sie hat viel zu tun. Sie arbeitet in Zirkeln mit, leitet selbst einen und
genießt es im Übrigen, bewundert zu werden. Ihre Schwestern bewundern sie um
ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit, ihre Mutter bewundert sie als Tochter
und die Männer bewundern ihre Schönheit.
Manchmal, am
Sonntagnachmittag, wenn die Familien an ihrem Fenster vorbeispazieren, dann ist
Ilona traurig. Paul ist mit seinen Freunden unterwegs und sie sitzt allein zu
Hause. Dann spielt sie Klavier oder sie hört Musik und manchmal weint sie vor
lauter Einsamkeit.
Ist sie bei Ana
draußen in deren Haus am Stadtrand zu Besuch, trinken sie Kaffee, rauchen und
erzählen. Doch Ilonas Themen sind nicht Anas. Ana lebt jede freie Minute in
ihrer Welt, so etwas kennt Ilona nicht. Sie kann stundenlang vom Betrieb
erzählen. Vom Neid unter den Kollegen, besonders unter den Frauen. Was der
gesagt hat oder die und wie sie alle den Chef hassen. Dass sie bald mehr Geld
bekommen wird und ob Ana nicht ihre Tochter Lena zur Musikschule schicken will.
Ana ist es egal. Sie könnte die Gebühr sowieso nicht bezahlen, weil sie kein
eigenes Geld verdient. Also muss Fritz herbeigeholt werden. Fritz macht Ilona
schöne Augen und teilt ihr Nettigkeiten zu, von denen Ana nicht mal ahnen
würde, dass er das noch kann, wenn sie es nicht mit eigenen Augen sehen würde.
Ilona lässt sich natürlich nicht lumpen und sich schon auch mal in den Arm
nehmen. Ana sieht darüber hinweg, weil es ja nur ihre Schwester ist, doch
immer, wenn es so ist, rückt sie ein Stück von ihnen weg. Vom Mann und der
Schwester. Sie ist viel zu stolz, eine Szene zu machen und sie wird noch ein
bisschen kälter.
Eine Zeitlang gehen
Ilona und Paul nicht mehr zu Ana. Ilona trifft sich heimlich mit Fritz. Nicht
in ihrer Wohnung weil Paul es nicht merken darf. Er hat großen Respekt vor
seinem Onkel Fritz und auch ein wenig Angst. Ilona soll einen kleinen Garten
von einem Kollegen übernehmen, dessen Frau gestorben ist und der keine Lust
hat, Sonntag für Sonntag seinen Erinnerungen in dem Garten nachzuhängen. Bis es
soweit ist, kann sie ihn aber schon nutzen und sie tut es ausgiebig. Ana, denkt
sie, ist doch sowieso alles egal. Sie will doch Fritz gar nicht. Und Fritz
bestätigt ihr das. Ana hat nur ihre Bücher, ihre Staffelei und ihre Träumereien
im Kopf, klagt er sich bei Ilona aus. Sie macht selten sauber und am Wochenende
kommt das Essen auch nie pünktlich auf den Tisch. Holla! denkt Ilona, zum Glück
ist er nicht mein Mann. Und sie kuschelt sich an ihn und lässt ihn reden von
ihrem schönen Haar, ihrem weichen Busen, ihrem herrlichen Körper. Sie lässt
sich von ihm lieben und danach gehen beide befriedigt und glückselig nach
Hause. Sie denken sich Ausreden aus, sie für den Sohn, er gegenüber der Frau
und so geht das eine ganze Weile gut.
Bis Ilona ihren
Prinzen trifft. Ihn, der sie endlich gefunden hat. Bei ihr schlägt es schon ein, als der Prinz sie noch
gar nicht gesehen hat. Sie allein weiß, dass er es ist.
Auf einem Aushang
am schwarzen Brett steht: Kinderfahrrad zu verkaufen. Pauls Geburtstag steht
bevor und er wünscht sich so sehr ein Rad. Sein erstes. Ein neues Fahrrad hätte
Ilona nie kaufen können. Das ergibt auch die Analyse ihrer Finanzplanung. Denn
Ilona plant alles ganz akkurat. Jede Mark verschwindet bei ihr in einem
festgelegten Etat. Für das Geburtstagsgeschenk gab der Topf genau vierzig Mark
her, das Rad soll fünfzig kosten. Na gut, denkt die Mutter, die zehn Mark nehme
ich aus meinem Kleiderfonds. Gesagt, getan. Sie ruft an, ja, das Rad sei noch
da. Sie nimmt das Geld, geht zu der Adresse, klingelt. Sie klingelt noch mal
und noch mal aber es wird ihr nicht geöffnet. Schöner Mist, denkt sie und sieht
schon die riesengroße Überraschung für Paul den Bach hinunter gehen, wie man es
bei ihnen nennt. Schon steht sie wieder auf der Straße, schaut aber noch mal suchend an die
Fensterfront hinauf, da wackelt an einem der Fenster die Gardine und gleich
darauf wird das Fenster geöffnet. Ein verschlafener Mann steckt seinen Kopf mit
dem völlig zerwuseltem Haar heraus und
ruft, nachdem er herzhaft gegähnt hat, hinunter: „Haben Sie geklingelt?“
„Ja,“ ruft Ilona
zurück „wegen dem Kinderrad“.
„Ach ja, warten Sie
bitte“. Er schließt das Fenster und schon surrt der Türöffner. Ilona springt zu
Tür, läuft die Treppen hinauf – der dritte Stock müsste es gewesen sein – und
steht vor einer angelehnten Korridortür. „Kommen Sie rein!“ hört sie seine
angenehme Stimme. Zaghaft schiebt sie die Tür auf und steht im Flur zwischen
dutzenden Umzugskisten.
„Versuchen Sie, es
ohne zu stolpern ins Wohnzimmer zu schaffen“ hört sie den Mann fröhlich rufen.
Woher weiß der, denkt Ilona, dass ich der geborene Tollpatsch bin? Sie ist es
übrigens wirklich. Besonders wenn Aufregung im Spiel ist, wie an diesem Tag. Verloren
steht sie im Wohnzimmer herum, in dem es genauso wild aussieht, wie im Flur.
„Ziehen Sie weg?“ warum klingt meine Stimme so bang, ich kenn den doch gar
nicht. Aber irgendwas ist mit dir passiert, Kleine.
„Nein, keine Angst
junge Frau, ich ziehe nur aus. Meine Frau ist in den Westen abgehauen und hat
außer dem Kind nichts mitgenommen. Für mich ist die Wohnung zu groß. Und was
das Fahrrad angeht, wenn ich meinen Sohn je wieder sehe, passt er bestimmt
nicht mehr drauf.“
Die letzten Worte
klangen gar nicht lustig, geschweige denn belustigt. Sie klangen sehr, sehr
traurig. Mit einem tiefen Seufzer tritt der verlassene Vater durch die Tür. Der
Anblick ist überwältigend, Ilona jagt es einen heißen Schauer durch den ganzen
Körper. Nur mit einer Jeans bekleidet, deren oberster Knopf noch offen steht,
die frisch gewaschenen Haare zwar frottiert, aber noch nass, das Handtuch über
der rechten Schulter eines leicht gebräunten Oberkörpers erscheint er. Oder
besser er erstrahlt und er lächelt sie bewundernd an. Ilona schaut schnell aus
dem Fenster. Ihr wird heiß und kalt im Bauch und sie spürt, wie ihr eine
glühende Hitze ins Gesicht steigt. Der Mann bemerkt das leichte Erröten, doch
er ist schlau genug, nicht darauf anzuspielen. „Tja, also Sie wollen das Rad
kaufen. Wollen Sie es sich erstmal ansehen?“ „Nein, das heißt ja, ich muss es
nicht sehen, es wird schon gut sein, oder?“ Vorsichtig schaut sie in seine
Richtung, wie um zu testen, ob sie den umwerfenden Anblick schon ertragen kann.
„ Kommen Sie, es steht im Keller.“ Spricht es, geht zur Tür hinaus, sie geht
hinterher, mechanisch denkt sie: und der Schlüssel, da knallt die Tür auch
schon zu.
„Au, verdammt! Äh.
Entschuldigung, man soll ja nicht fluchen. Das passiert mir dauernd.
Hoffentlich ist Claudia zu Hause, die hat noch einen Schlüssel, sonst müssen
Sie mich mit zu sich nehmen.“ und er lacht sein unglaubliches schönes Lachen.
Nichts lieber als das, denkt Ilona, sagt aber nichts. Sie gehen hinunter er
zerrt das Rad unter einem weiteren Stapel Kartons hervor und präsentiert es
ihr. „Na ja, es könnte noch mal geputzt werden.“ „Das kann ich schon machen“
Ilona stottert fast vor lauter Aufregung, zumal sie wegen der Enge im Keller
dicht beieinander stehen. „Nehmen Sie es also?“ „Ja, natürlich nehme ich es.“
„Prima! Wieder eine Sorge weniger:“
Er trägt das Rad
hinter Ilona her die Treppe hinauf und sie verwünscht ihre Schlampigkeit und
schwört sich hoch und heilig, dass sie nie wieder im Leben mit dieser elenden
alten Hose auf die Straße gehen wird und sei es nur bis zum Briefkasten. Sie
hofft inbrünstig, dass es auf das Rad achten muss beim Treppensteigen und keine
Zeit für ihren Hintern in der unsäglichen Schlabberhose hat. Da sind sie schon
oben angelangt, sie reicht ihm die Geldscheine, er steckt sie ein ohne nachzuzählen.
Fragt nur, ob sie was zurückbekommt. Gerade wollen sie sich die Hand zur
Verabschiedung reichen, da geht im Parterre das Fenster auf und eine üppige
Wasserstoffblondine lehnt sich so weit aus dem Fenster, dass ihr Dekolleté
überaus prachtvoll zur Geltung kommt. „Gott sei Dank, dass Du da bist, Claudia“
sagt der Typ. Ich hab wieder mal meinen Schlüssel drin gelassen. „Für Dich bin
ich doch immer da, Freddy“ flötet Claudia und lässt ihren Blick bewundernd über
Freddys nackten Oberkörper wandern. Als sie damit fertig ist, streift sie Ilona
mit einem scheelen Blick und macht das Fenster wieder zu. „Dann will ich mal“
sagt der Mann, reicht ihr die Hand und wünscht viel Spaß mit dem Rad. Geht ins
Haus, die Tür fällt zu und hier stehst du dumme Kuh. Diese Claudia sieht ja
tausendmal besser aus als ich, denkt Ilona. Vergiss ihn einfach, okay Mädel?
Recht benommen
schiebt sie das Rad durch die Straßen bis nach Hause. Um ein Haar hätte sie
geklingelt, so dass Paul es gleich gesehen hätte.
„Mami“ Paul ist ganz
aufgeregt. „Wo warst du denn so lange? Der Onkel Fritz war hier, er wollte zu
dir!“
„Ach. Ich musste
was erledigen. Was wollte er denn?“
„Weiß nicht, er
kommt morgen noch mal.“
Ilona heftet als
erstes die Telefonnummer des Mannes an ihre Korkplatte in der Küche. So, die
kommt nun nicht mehr weg. Sie beschließt, ihn anzurufen. Claudia hin oder her.
In ihrem Bauch wimmeln Schmetterlinge, wenn sie nur an ihn denkt. Du bist doch
eine dumme Kuh, schilt sie sich. Du kennst ihn überhaupt nicht. Nur, weil er so
gut aussieht? Doch von dieser inneren Ansprache beruhigen sich die
Schmetterlinge auch nicht.
Sie ruft ihn noch
am selben Abend an, weil sie Angst hat dass er vielleicht morgen oder
übermorgen ausgezogen sein könnte und sie ihn nie mehr erreichen kann. Natürlich
geht er nicht ran. Sie klingelt in Halbstundenabständen bei ihm an. Bis nach Mitternacht. Doch
vergeblich. Claudia, denkt sie und ist bereits eifersüchtig, noch bevor sie das
kleinste Zeichen von ihm erhalten hat.
Paul freut sich
riesig über das Rad. Für weitere Geschenke außer für eine Tafel Schokolade war
kein Geld da, aber Paul hätte etwas anderes auch gar nicht beachtet. Leider
regnet es an seinem Geburtstag, so dass er das Fahrrad noch nicht einmal
ausprobieren kann. Er sitzt mit stolzem Gesicht vor seinem Rad auf dem Boden
und streichelt die Reifen und die Schutzbleche. Ein wenig kann er es hin und
her schieben und alle zwei Minuten lässt er die Klingel ertönen.
Ilona ist
glücklich, weil Paul glücklich ist. Am Nachmittag kommen Oma und Opa zum
Kaffeetrinken und auch sie staunen nicht schlecht. In der Küche fragte ihre
Mutter sie flüsternd, was denn mit ihr sei. Sie sei so dünn geworden.
Von Fritz hat Ilona
seit dem Tag nach ihrem Fahrradkauf nichts mehr gehört. Er hatte sie besucht
und ihr ganz aufgeregt berichtet, dass Ana ein Kind erwartet. Ilona hat sich
unglaublich geschämt. Sie hatte mit keiner Silbe daran gedacht, dass Ana und
Fritz auch miteinander schlafen würden. Vielmehr glaubte sie, Ana würde gar
nichts davon halten, also vom Sex. Schlagartig wurde ihr bewusst, was sie ihrer
Schwester eigentlich angetan hatte und plötzlich wurde das Gefühl der Bindung
zwischen zwei Frauen viel stärker, als das Gefühl ihrer Bindung zu Fritz. Sie
machte auf der Stelle Schluss mit ihm. Der konnte das einfach nicht so schnell
begreifen, er war völlig überrumpelt worden. Damit hatte er überhaupt nicht
gerechnet. Ilona hielt eine feurige Ansprache, wonach er sich jetzt um seine
Frau zu kümmern habe und das es sowieso nicht recht gewesen war und überhaupt. Sie
ließ sich auch nicht erweichen und als Fritz nach zwei Stunden erbitterten
Flehens und Bettelns im Hausflur stand, wusste er bereits, dass jeder weitere
Versuch aussichtslos sein würde, aber er gab es sich selbst gegenüber natürlich
nicht zu. Seine Ehre galt es zu retten, seiner Eitelkeit galt es gerecht zu
werden und so folgten noch viele Anläufe von ihm, die aber allesamt an einem
Eisblock abglitten.
Und Ilona? Sie
wurde blass, bekam hohle Wangen und nahm Tag für Tag ein wenig ab. Sie konnte
kaum was essen, die Bissen blieben ihr förmlich im Halse stecken und wenn sie
in der Stadt unterwegs war, vergaß sie über ihr krampfhaftes Ausspähen nach
diesem einzigen Mann all das, was sie eigentlich erledigen wollte. Sie hatte an
den drei folgenden Abenden weiterhin erfolglos versucht ihn anzurufen, dann kam
auf einmal die Ansage „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ und für Ilona brach
die Welt zusammen.
Endlich ist die
Regenzeit zu Ende. Paul rennt aus der Schule nach Hause, wirft den Ranzen in
sein Zimmer und stürmt in den Keller. Er schleppt ächzend das Rad die drei
Treppen hinauf, schiebt es aus dem Eingang auf den Fußweg hinaus und genießt
den Augenblick des Aufsteigens. Den Sattel hatten sie schon mehr als einmal
ausprobiert, er passt hervorragend. Paul klingelt zweimal kurz, lauscht mit
schräg gehaltenem Kopf dem wunderbaren Klang hinterher und schon geht die Fahrt
los. Zuerst sieht es noch ein bisschen wackelig aus, denn es ist lange her,
dass er das Radfahren gelernt hat. Glücklich und strahlend gondelt Paul anfangs
nur durch die kleinen Straßen hinter seinem Häuserblock, dann immer weiter und
weiter durch die ganze Stadt. Er macht sich keine Gedanken über Zeit und Raum,
denkt nicht an Hausaufgaben, nicht an die Mutter. Fährt nur.
„Stopp!“ Paul zuckt
zusammen und springt vom Rad. Dabei stößt er sich das Schienbein an einem Pedal
und schreit „Au, Scheiße!“ Vor ihm steht breitbeinig ein großer Mann. Paul
sieht vorsichtig an ihm hoch. Sein erschreckter Blick bleibt in einem
lächelnden Gesicht hängen. Der Junge entspannt sich sichtlich.
„Entschuldige, ich wollte nicht, dass du
dich stößt.“ „Ach, nicht so schlimm.“ sagt Paul und wartet was nun passieren
wird. „Wo hast du denn das schöne Rad her?“ fragt der Mann und Paul beeilt sich
zu versichern: „Es ist nicht geklaut, ich hab es zum Geburtstag bekommen.“ „Das
habe ich auch nicht angenommen, dass du es geklaut hast.“ Der Mann lacht laut,
worauf Paul wütend wird, denn er fühlt sich ausgelacht. Er sagt: „Mein Rad geht
Sie gar nichts an!“ und will weiter fahren. Aber der Mann hält ihn am Lenker
fest. „Sag mal, wo wohnt ihr?“ „Das darf ich nicht sagen.“ „Du hast Recht, das
hab ich meinem Sohn damals auch verboten.“ Der Mann lächelt traurig vor sich
hin. „Sie haben auch einen Sohn?“ „Ja. Es war sein Rad, weißt du? Und deine
Mutter hat es mir abgekauft. Pass auf! Gib ihr bitte diesen Zettel hier, sie
möchte mich mal anrufen. Sie hat mir zuviel Geld für das Rad bezahlt und das
möchte ich ihr zurückgeben.“ Ohne weiteren Gruß geht der Mann in ein Haus
hinein, Paul schaut auf den Zettel, dann auf das Rad, steckt den Zettel in die
Hosentasche und fährt nachdenklich nach Hause.
Die Welt ist in
Ordnung, das Leben ist schön.
Für Ilona geriet an
jenem Nachmittag die Welt aus den Fugen.
Sie hat ihn angerufen, sie haben sich getroffen, sie brauchten keine
Erklärungen. Sie brauchten eine ganze Nacht, in der sie bis zum Morgen nur
geredet haben. Dann haben sie sich geliebt, wie es Ilona noch nie zuvor in
ihrem Leben erlebt hatte. Sie waren so voller Sehnsucht, voller Begierde, so voller
Zärtlichkeit und voller Lust.
Niemals, so wussten
Beide, würden sie sich je wieder trennen. Ilona kam viel zu spät zur Arbeit,
aber sie lächelte nur. Die Kollegen wunderten sich, denn die junge Frau war
eher als zu ernst bekannt. Normalerweise hätte sie sich tausende Male
entschuldigt, hätte die Pause durchgearbeitet, damit sie es wieder ausgleicht
und hätte sich vor allem geschämt. Doch sie lächelte, lächelte, lächelte. Sie
sahen zu, wie sie beim Telefonieren eine ganze Weile mit verklärtem Gesichtsausdruck
den Hörer ans Ohr presste, dann plötzlich zusammenzuckte, rot wurde und sich
stotternd aus der Affäre reden wollte. Sie hatte das Gespräch gar nicht richtig
wahrgenommen.
Das Wetter ist
prachtvoll, denn es ist Herbst und es regnet jeden zweiten Tag. Alle Menschen
in der Stadt rennen frierend und zähneklappernd schnell in die Häuser, bis auf
drei. Das sind Paul, seine Mutter und Fred. Fred heißt er. Sie halten sich an den Händen, spazieren mit
hochgeschlagenem Jackenkragen durch den kalten Wind, kaufen sich Eiskugeln und
lachen um die Wette. Ilona und Fred verbringen fast jede Nacht zusammen, sie
lieben sich bis der Morgen graut und trennen sich nur, weil sie zur Arbeit
gehen müssen.
Marina
„Verflixter Bengel,
wirst du wohl endlich herkommen!“
Marina ruft es
laut, mit einem Lachen in der Stimme. Ihr Großer, der Uli, dirigiert
seelenruhig sein Schiffchen, das aus einem Stück Rinde besteht, über die
schlammige Pfütze und hockt selbst so dicht am Rand, dass seine Sandalen vorn
eintauchen und seine Zehen schon ganz nass sind.
Dabei sollte er nur
einen Augenblick warten, bis sie sich fertig gemacht hatte. Sie hatte sich
nicht entscheiden können, welches Kleid sie tragen solle. Das dunkelblaue enge
Seidenkleid mit den Puffärmeln und dem großen Ausschnitt oder das helle
geblümte, weite Kleid mit dem kleinen Jäckchen. Sie hatte sich dann für das
geblümte entschieden, denn dazu passten ihre weißen Riemchensandaletten besser.
Die Augenbrauen musste sie sich auch noch nachziehen und ihr Haar war auf
einmal nicht mehr schön genug, so dass sie es lange bürsten musste, bis es
seinen Glanz wieder gefunden hatte.
Und nun sitzt der
Bengel hier in der Pfütze! Die Empörung der Mutter ist nicht so schlimm, wie es
aussieht, aber immerhin geht es heute um was. Der Sohn soll zum ersten Mal
ihren Bekannten treffen. Sie ist schon seit zwei Monaten mit ihm zusammen, aber
ihren Jungen kennt er noch nicht.
Sie sind spät dran,
Neue Strümpfe abziehen ist für Uli ist nicht mehr drin.
„Egal „ sagt er,
„ist ja warm“. Recht hat er.
Gut gelaunt und mit
einem erwartungsfrohen Lächeln auf dem Gesicht fasst Marina ihren Sohn an der
Hand und sie gehen aus dem Hoftor hinaus in Richtung Innenstadt.
Schon von weitem
erkennt die Frau mit dem klopfenden Herzen ihren Freund. Groß, sportlich und
attraktiv kommt er daher. Sie umarmen sich zur Begrüßung nur leicht, dann
reicht der Mann Uli die Hand. „Na, junger Mann, du hast dich aber chic
gemacht!“ Uli wird ein kleines bisschen rot, zieht sie Zehen ein soweit es geht
und grinst verschämt in das Gesicht des Mannes hinauf.
„Na los, ihr
beiden, ich lad’ euch auf ein Eis ein, wollt ihr?“
Der Mann, er heißt
Walter, wartet mit leicht geneigten Kopf lächelnd auf eine Antwort. Seine Augen
strahlen dabei Marina an. Der Junge schaut von einem Erwachsenen zum anderen
und hat das Gefühl, es interessiert niemand, ob er will oder nicht, und deshalb
sagt er laut und überdeutlich: „Ja!“
Seine Mutter und Walter sehen gleichzeitig zu ihm hinunter und prusten los. Der
Junge lacht zurück und mit der Frau in der Mitte marschieren sie frohgelaunt
zum Marktplatz, wo sich die einzige Eisdiele der kleinen Stadt befindet.
Bald darauf zieht
Walter bei Marina ein. Außer zwei
Koffern mit Sachen und einer Bücherkiste bringt er nichts weiter mit. Mit dem Einzug verändert sich kaum was
in der kleinen Wohnung. Der Mann bekommt auch kein eigenes Zimmer, worüber Uli
sich freut, denn er hatte schon befürchtet, er müsse sein Zimmer für Walter
räumen.
Marina ist immer
heiter und so gut gelaunt, wie lange nicht. Sie lächelt den ganzen Tag. Selbst
wenn sie müde von der Arbeit kommt, hat sie ein strahlendes Leuchten in den
Augen. Die Sonntage verbringen sie im Schwimmbad oder im Wald, es ist Sommer,
es ist warm, das Leben ist schön. Marina ist glücklich, dass sich ihre beiden
Männer, der große und der kleine, so gut verstehen. Manchmal haben sie sogar
Heimlichkeiten vor ihr, was sie mit gespielter Empörung quittiert und was die
Beiden zu verschwörerischem Gelächter veranlasst. Dann lässt sie sie am
liebsten in Ruhe, schließt leise die Tür der Wohnstube und geht in die Küche.
Sie setzt sich rittlings auf ihren Bunte-Kuh-Stuhl und schaut aus dem
geöffneten Fenster in den abendlichen Garten hinaus. Die Grillen zirpen und es
duftet nach Heu. Den Stuhl hatte sie damals von Ana zu ihrer Hochzeit mit
Martin bekommen. Er ist damit schon neun Jahre alt, sieht aber noch aus wie
neu. Marina hatte ihn erst kürzlich wieder entdeckt. Martin hatte er nicht
gefallen, deshalb musste er ein unbeachtetes Dasein auf dem Boden fristen.
Dabei ist der Stuhl wunderschön. Marina schämt sich noch im Nachhinein, dass
sie sich damals nicht gegen Martin durchsetzen konnte. Das Sitzpolster ist mit
einem Stück schwarz – weiß – geflecktem Kuhfell überzogen, die schwarzen
Streben gehen in eine grün gestrichene Rückenlehne über, jedes Bein hat eine
andere Farbe: gelb, blau, rot und grün, verbunden mit ebenfalls schwarzen Streben. Ein wirkliches Prachtstück aus Anas
künstlerischer Stuhl - Phase.
Ach ja, Martin.
Denkt Marina. Ich hab ihn ja mal geliebt, aber er ist ein Arsch. Er hat mich überhaupt nicht respektiert. Nur
sich und seine perversen Gelüste. Wenn ich nicht wollte – ihm war das egal. Ich
hab gesagt, das ist Vergewaltigung, aber er: es gibt keine Vergewaltigung in
der Ehe. Der Arsch! Und ich war ja wirklich damals wild drauf, als ich ihn
kennen lernte. So oft wir uns getroffen haben, haben wir gefickt. Es war total
gut. Manchmal hatten wir ein Problem, ungestört zu sein, aber wir haben es
immer irgendwie hingekriegt. Wenn ich nur an das eine Mal in dem Bushäuschen denke.
Der Bus kam, die Leute stiegen ein, nur wir nicht, dann fuhr er ab und wir
haben es getan. Der brauchte ja nur meine Brüste zu berühren, da wurde ich
schon heiß. Er muss da irgendeinen Trick gehabt haben. Na ja, das war einmal.
Als wir dann immer konnten, wollte ich nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr so
oft. Besonders nach dem Kind. Und Martin wollte ständig. Wenn ich nur daran
denke, wie ich mich überwinden musste. Und wie oft ich ihn gebettelt habe, mich
in Ruhe zu lassen. Aber dem war alles scheißegal. Hosen runter und los! Das
eine Mal sogar beim Bügeln. Da hätte ich ihm am liebsten das heiße Bügeleisen
auf seinen Schwanz gedrückt, dem Idioten. Ficken, Ficken, Ficken an was andres
hat der doch gar nicht gedacht! Das hält ja niemand aus. Wenn er mal ein paar
Tage unterwegs war, war es die pure Erholung. Aber ich blöde Kuh wollte dann
auch schon wieder und wir trieben es ein paar Tage lang, bis es mir wieder
zuviel wurde. Zum Glück ist das vorbei. Die Tussi, die er jetzt hat, wird sich
bedanken. Mit mir ist er schließlich seinerzeit auch fremdgegangen. Ich hab
seiner Ollen ja richtig Glück gebracht, damals. Sie soll schon lange wieder
verheiratet sein.
Mit Walter hab ich
richtig Glück. Der ist total okay. Ab und zu könnte er schon ein bisschen was
von mir wollen, ist ja fast zu anständig. Aber vielleicht hat er nur Respekt
vor meinen trüben Erfahrungen? Ich hätte ihm ja auch nicht gleich in der ersten
Nacht alles erzählen müssen. Aber ich konnte damals nicht anders.
Die Küchentür
öffnet sich knarrend und langsam. Marina wendet den Kopf, kann aber niemand
sehen. Leises Jammern dringt an ihre Ohren: „Hunger, Durst …“ Sie schaut noch
mal hin und da sieht sie, wie sich ihre beiden Männer auf dem Fußboden
kriechend herbei schleppen und mit hündischen Blicken um Saufen und Fressen
betteln. Marina lacht und hockt sich zu ihnen. „Ach, meine beiden Hundchen, ihr
Armen. Seid ihr am Ende? Wartet, Mutti macht euch schönes Fresserchen.“ Sie
winseln und jaulen und bellen und hoppeln fröhlich auf allen Vieren zurück über
den Flur ins Wohnzimmer. Tja, das Abendessen hat Marina total vergessen. Sie
holt die Würstchen aus dem Kühlschrank, setzt einen Topf mit Wasser auf und
schaltet den Backofen ein, um die Brötchen aufzuwärmen. Sie nimmt drei Teller
aus dem Schrank und spritzt auf jeden von ihnen mit der Senftube einen
Osterhasen. Dann deckt sie den Tisch mit Bier für sich und Walter und mit
Brause für Uli, mit den Senftellern, Besteck und einem Brett für den heißen
Topf. Jetzt müssen die Brötchen ins Ofenrohr. Noch fünf Minuten und sie wird
den Hundefänger spielen.
Ist das Glück?
Marina lächelt still in sich hinein und weiß, dass das Glück ist. Sie freut
sich schon auf den gemeinsamen Abend mit Walter, später, wenn Uli im Bett ist.
Walter schlummert
ein, während er sich noch die Decke zurecht zieht. Marina stupst ihn an. „He
…!“ Doch Walters tiefe Atemzüge zeigen ihr, dass er schon schläft. Warum musste
er auch unbedingt noch diesen blöden Horrorfilm gucken, bei dem sie sich so
gelangweilt hatte! Im Halbschlaf
kuschelt sich Walter an ihre Seite. Sein
Arm liegt über ihrer Brust und wird immer schwerer, je tiefer er schläft. Er
pustet leise, noch ist es kein Schnarchen, während Marina mit geschlossenen
Augen aber wach im Bett liegt und sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder
einmal eine richtig stürmische Liebesnacht.
Marina ist
schwanger. Als sie es walter sagt, ist sie schon im vierten Monat. Er reißt die
Augen auf: „ Schwanger? Von mir?“ „Von wem denn sonst!“ Marina ist gleich ein
bisschen beleidigt, weil er ihre Aufrichtigkeit anzweifelt. Er nimmt sie in den
Arm, drückt sie an sich und hebt sie ein Stück in die Luft. „Nicht so doll!“
Marina zappelt sich frei und steht wieder fest auf dem Boden. „Also du freust
dich?“ „Natürlich freue ich mich, was denkst du denn! Ein Kind, ein kleines
Mädchen!“ „Na, das wissen wir erst in paar Monaten.“
„ Wir sollten
heiraten, was meinst du?“
Die Hochzeit ist
eine kleine Feier. Die Eltern, die Schwestern und von Walter nur ein Freund,
der den Trauzeugen spielt. Marina hat schon einen dicken Bauch, sie gehen alle
zusammen in ein Restaurant zum Essen, es ist keine Traumhochzeit. Doch Marina
ist zufrieden.
Zu Hause ändert
sich nichts. Was soll sich auch? Walter geht jetzt abends oft alleine weg, denn
Marina mag nicht mehr dauernd die vielen Treppen zu ihrer Wohnung steigen. Sie überlegt bei
jedem Gang, ob er sich irgendwie vermeiden ließe. Sie gönnt Walter seine
gelegentlichen Kneipentouren, er kann ihr ja nicht die ganze Zeit beim
Schwangersein zugucken.
Ein Bruder. Marinas
großer Sohn ist stolz wie ein König. Walter ist ein begeisterter Vater. Marina
ist Tag und Nacht mit dem Kleinen beschäftigt. Er macht Schwierigkeiten beim
Essen und quengelt viel herum. Für Walter hat Marina kaum noch Zeit, was den
aber nicht zu stören scheint. Immer noch geht er alleine aus. Obwohl Marina
sich wünscht, dass er zu Hause bleibt. Sie möchte die wenigen Abendstunden,
bevor sich das Baby wieder meldet, mit ihm verbringen, ein bisschen Kuscheln,
reden, ….
An einem dieser
Abende, als sie wieder allein im Wohnzimmer sitzt und sich gerade ein Buch
vorgenommen hat, klingelt es an der Tür.
„Ich kann es ja
auch nicht glauben“, sagt die Mutter,“ aber wortwörtlich so hat es Onkel Willi
erzählt.“
„Nein, Mutti, das
stimmt nicht, das kann nicht wahr sein!“ Marina schießen die Tränen in die
Augen. Sie will es nicht wahrhaben und weiß es selbst schon lange.
Sie beschließt,
sich sofort von Walter zu trennen, so schwer es auch allein mit den Kindern
werden wird.
Noch am selben
Abend spricht sie mit ihm und am Tag darauf, zieht er mit seinen zwei Koffern
und der Bücherkiste wieder aus.
Elke
Es ist bereits nach Mitternacht und niemand macht sich
Gedanken, wie er morgen aus den Federn kommen wird. In der düsteren,
verqualmten Kneipe dudelt Jazzmusik, dann das laute Stimmengemurmel, man kann
kaum was verstehen. Elke stößt Hannes unter dem Tisch mit dem Knie an. Er
diskutiert gerade mit seinem Nachbarn, der schon den Kopf auf die Unterarme
gelegt hat und wohl einschlafen will. Elke rüttelt Hannes am Arm. „Los, lass uns
abhauen.“ Hannes sieht sie mit glasigen Augen an. „Okay, Schatzi, aber eine
rauchen wir noch, ja?“ er stupst sie mit der Nase an und sucht nach den
Zigaretten, die irgendwo auf dem Tisch verschüttet worden sind. Sie zünden sich
eine an, Elke schiebt Hannes ihr halbvolles Bierglas zu und bietet ihm an, mit
daraus zu trinken. Sie möchte nicht, dass er sich noch ein Bier bestellt, dann
noch eine Zigarette raucht und sie nie ins Bett kommen. Unterm Tisch streichelt
sie ein bisschen sein Bein und sieht ihn an. Auch er schaut sie an, macht
plötzlich doch die Zigarette aus und zieht sie mit sich. Der Pförtner, ein
hustender alter Mann, der für Zucht und Ordnung in der Schlafscheune sorgen soll, lässt Elke wie
immer durch. Er hat während dem bereits zwei Wochen dauernden Ernteeinsatz der
Studenten noch nicht gemerkt, dass sie gar kein Junge ist. Es ist ja auch
schwer, Elke als Mädchen zu erkennen. Ihr Haar trägt sie kurz, sie schminkt
sich nie, und hat ein sehr jungenhaftes, offenes Gesicht mit graugrünen, schmalen
Augen. Sie, die vierte Schwester, wäre viel lieber ein Junge gewesen. Ihrem
Vater hätte sie damit einen großen Gefallen getan. Aber es hatte halt nicht
geklappt. Statt mit Puppen hat sie lieber Fußball gespielt und statt schöne
Kleider zu tragen, ist sie mit den Jungs aus der Nachbarschaft auf den Bäumen
herumgeklettert und hat den Vater damit zur Weißglut gebracht.
Sie trägt unförmige
lange Hosen und einen schlabberigen Pullover. Selbst wenn man genauer hinsieht,
kann man nicht viel von ihren kleinen Brüsten erkennen.
Die Beiden necken
sich und lachen leise, während sie ihre Strohsäcke ganz dicht zusammenschieben,
kuscheln sich beide unter eine Decke und küssen sich. Sie haben nicht viel
Zeit. Bald werden die anderen aus der Kneipe kommen.
Gerade als Hannes
den Höhepunkt erreicht, ist die Meute an der Scheunetür angelangt. Er presst
seinen Mund auf Elkes Arm um nicht laut zu stöhnen, dann werfen sich beide
erleichtert zurück und müssen lachen. Unten ist eine kleine Rangelei im Gange,
Gelächter, Gepolter von Stühlen, die von einem Schrank oder Tisch herunter auf
den Boden krachen. Der Pförtner schimpft und flucht - es ist wie immer.
„Na, fertsch?“
fragt der erste, der die Leiter hochkommt, macht das Licht an und kriegt im
selben Moment ein Kissen an den Kopf geworfen. Der Auftakt zur obligatorischen
Kissenschlacht. Es dauert lange, ehe
Ruhe eintritt und Elke meint, schon den ersten Hahnenschrei des neuen Tages zu
vernehmen.
Hannes und sie
bewohnen gemeinsam Elkes großes Zimmer im Haus der Eltern. Sie malen moderne
Muster an die Decke, die alle anderen streitbar finden, stellen ein paar Möbel
von Hannes und ein paar von Elke hinein, packen ihre Kartons mit den vielen
Büchern aus, Elkes Banjo und brauchen bald darauf ein Kinderbett. Vorher
heiraten sie noch schnell, worauf sich Elkes Eltern sehr zufrieden zeigen, dass
nun auch das Nesthäkchen unter der Haube ist. Zur Hochzeit sind alle Verwandten
eingeladen. Auch die Kinder. Für Lena ist es die erste Hochzeit ihres Lebens.
Sie wird herausgeputzt und bekommt ihre ersten Absatzschuhe. Sie ist gerade in dem Alter, in dem Mädchen einen
heimlichen Schwarm nach dem anderen haben. Auf der Hochzeit sind so viele
Männer, dass sie gar nicht weiß, für welchen sie sich entscheiden soll. Ihre
Erwartungen an die Liebe zu dem inzwischen Auserkorenen erschöpfen sich im
heimlichen Angucken und im Denken an
heimliches Händchenhalten. An eventuelles Küssen denkt sie auch, wenngleich mit
Ekel. Einmal weiß sie gar nicht, wie es geht und zum Zweiten ist sie schon mal
geküsst worden. Igitt.
Es war zur
Silvesterfeier. Um Mitternacht drückten, küssten und umarmten sich alle. Lenas
Papa nahm seine Tochter ebenfalls in den Arm. Er roch schauderhaft nach Schnaps
und dann muss er sie wohl mit einer der vielen anwesenden Frauen verwechselt
haben. Er drückte seinen offenen, feuchten
Mund auf ihre Lippen und bei dem Gedanken daran schüttelt es Lena noch
heute.
Ihr Schwarm ist
mindestens 20 Jahre älter als sie. Eben schon ein richtiger Mann und nicht nur
ein Junge. Lena starrt ihn unverhohlen an und beobachtet jede seiner Gesten.
Doch er bemerkt sie gar nicht. Schlimmer noch, er redet die ganze Zeit mit
ihrer Mutter. Lena sitzt mit gesenktem Kopf in einer Ecke, schaut grimmig unter
der Stirn hervor zu den Beiden hin wird immer wütender, je öfter ihre Mutter
lacht. Dann hält sie es nicht mehr aus,
geht aus dem Raum und schmeißt laut die Tür zu. Sollen es doch alle merken.
Wütend und schlecht
gelaunt streift sie durchs Haus und findet alle Erwachsenen zum Kotzen. Sie ist
maßlos darüber empört, wie augenscheinlich sich verheiratete Männer auf fremde
Frauen stürzen. Und die Frauen sind auch nicht besser. Wenn sie mal einen
Freund haben sollte, was zwar nie passieren wird, aber falls, dann würden sie
sich so sehr lieben, dass sie niemals einen anderen auch nur anschauen würde.
Und er dürfte auch keine Andere ansehen.
Bald steht in Elkes
und Hannes Zimmer ein weißes Gitterbettchen mit einem kleinen Baby drin.
Da muss Hannes zur
Armee und Elke hat die ganze Arbeit mit dem Baby alleine auf dem Hals.
Überall im Zimmer
hängen Windeln zum Trocknen herum und das Bügelbrett wird gar nicht mehr
weggeräumt. Der Kinderwagen steht meistens auf dem Hof, etwas abseits, und die
Kinder müssen aufpassen, dass ihr Ball nicht auf dem Baby landet. Lena entwickelt bereits erste Muttergefühle
und wäre überglücklich, wenn sie das Kind ausfahren dürfte. Sie darf. Man fühlt
sich so erwachsen und wichtig mit einem Kinderwagen vor dem Bauch. Stolz, als
wäre sie selbst die junge Mama, lenkt
sie. den Kinderwagen vom Hof. Alle Leute auf der Straße schauen sie an. Manche
sagen etwas zu ihr und wollen in den Wagen schauen, aber sie sagt immer, dass
das Baby schläft und man dürfe es nicht wecken. Das Kissen, das als Zudecke
dient, ist so dick, dass man wirklich nichts von dem Kind sehen kann. Es sein
denn, man würde die Plane heruntermachen. Doch das geht ja nicht, weil der
Kleine schläft. Lena schiebt den Wagen immer weiter und weiter. Aus der Stadt
hinaus, über ein Brücke, ins nächste Dorf, guckt immer mal in dem hohen Kissen
nach ihrem Kind – sie darf das natürlich! -
und genießt die Ausfahrt sehr. Unter Schatten spendenden Bäumen schiebt sie den Wagen am Ufer des
kleinen Flüsschens entlang. Sie hält Ausschau nach einer Brücke, um wieder über
den Fluss und zurück nach Hause zu kommen. Keine Brücke in Sicht. Stur läuft
Lene weiter. Es muss bald eine Brücke kommen. Die Fütterzeit für den Kleinen
rückt näher, sie müssen nach Hause. Als sie begreift, dass sie doch umkehren
muss, bekommt sie Angst. Sie ist sehr weit gelaufen und soll jetzt den ganzen
Weg zurück? Und was ist, wenn das Baby verhungert? Lena malt sich sofort ein
großes Drama aus und bekommt Panik. Im Sturmschritt schiebt sie den Wagen den
ganzen holperigen Sandweg zurück. Schiebt ihn an einer Gruppe arbeitender Männer
vorbei, die sie verwundert anschauen. Soll sie die Männer nach einem kürzeren
Weg fragen? Sie traut sich nicht. Ich habe mich verirrt, denkt sie. Vor lauter
Angst und Hektik erkennt sie den Weg nicht mehr, weiß nicht, wo sie ist. Das
Baby verhungert, das Baby verhungert … hämmert es in ihrem Kopf, obwohl es
nicht mal einen Pieps von sich gibt. Das Baby ist sogar schon zu schwach zum
Schreien, denkt Lena und erwägt in ihrer Angst, das Baby und sich selbst im
Fluss zu ertränken. Der Fluss ist nicht tief, das Baby würde vielleicht tot
sein, aber sie nicht. Wie solle sie das dann erklären? Was würden sie mit ihr
machen? Wie sie so in diese trüben Gedanken versunken, mit den Tränen
kämpfend und fast rennend mit dem Kinderwagen
unterwegs ist gibt sie ein jammervolles Bild ab. Endlich kann sie den Friedhof
erkennen. Hier war sie schon oft mit ihrer Oma, um Opas Grab zu gießen. Sie hat
zurück gefunden, das Kind guckt mit dunklen Knopfaugen aus den dicken Kissen
und Lena fällt ein schwerer Stein vom Herzen. Immer noch schnell, aber doch
befreit von einer riesigen Last, schiebt sie den Wagen an der Straße entlang
und die letzten paar Meter zur
Eingangspforte im Zaun rennt sie fast, ihr Atem beruhigt sich ein wenig. Sie
beschließt, nie im Leben irgendjemand nur ein Sterbenswörtchen von ihren
Mordplänen zu erzählen und sie ist unendlich froh, sie zum Glück doch nicht
ausgeführt zu haben. Der Gedanke an das, was sie mit sich und dem Kind, mehr
aber doch mit dem Kind vorgehabt hatte, wühlt ihre Gedanke abermals mit aller
Gewalt auf und ihr Herz pocht erneut bis zum Hals.
Tante Elke steht
schon am Zaun und erwartet sie mit einem skeptischen, aber erleichterten
Lächeln im Gesicht. Jedes Wort eines Vorwurfes bleibt ihr im Halse stecken, als
sie sieht in welchem Zustand Lena sich
befindet. Jetzt endlich muss das Mädchen seine Tränen nicht mehr
zurückhalten, sie schluchzt herzzerreißend und ist nicht in der Lage, ihre
Verspätung zu begründen. Fortwährend stammelt sie nur: „Entschuldigung,
Entschuldigung ..“
Elke nimmt ihr Baby,
das nun doch kräftig zu schreien begonnen hat,
aus dem Kinderwagen und geht mit ihm ins Haus.
Die anderen Kinder
auf dem Hof haben das Ganze aus der Entfernung beobachtet. Jetzt kommen sie
näher und hänseln Lena. Sie weint immer mehr und will nach Hause, aber die
Kinder schubsen sie und wollen sie nicht aus dem Tor lassen. Sie waren
neidisch, dass nicht sie es waren, die mit dem Kleinen draußen, außerhalb des
Hofes angeben durften und sie können Lena sowieso nicht leiden. Lena, die nie
einen Streich mitmacht, die in der Schule immer die Beste ist, die sie stets
als Vorbild vorgehalten bekommen. Schau dir Lena an, die macht so was nicht,
die klaut ihrer Mutter kein Geld, sie bringt Altstoffe weg, wenn sie sich was
kaufen will und so weiter. Es ist also die Stunde der Rache gekommen. Und zu
Lenas Leid über den Ausflug mit beinahe tödlichem Ausgang kommt nun noch diese
Schande.
Elkes Familie zieht
in eine richtige Wohnung auf derselben Straße. Die Wohnung liegt unterm
Dachjuchhe und ist sehr klein, aber sie sind für sich. Beim Einrichten helfen
alle ein bisschen mit und sind froh, dass sie ihre abgelegten Möbel endlich
loswerden.
Elke und Hannes
gehen sonntags, wie alle anderen Verwandten,
nach Hause zu Mutter und Vater wo es den ganzen Nachmittag Bohnenkaffee
und selbstgebackenen Kuchen gibt. Dort sieht man sich, kann mit der Schwester
plaudern, hoffen dass die größeren mit den kleineren Kindern spielen und ein
bisschen über die Abwesenden, über Bekannte und Nachbarn lästern.
Elkes Baby war
mitten in ihr Studium hineingeplatzt und hatte ihren emanzipierten Traum vom
Geldverdienen vorübergehend zerstört.
Hannes Sold reicht nicht hinten und nicht vorn so dass es in der Familienkasse recht düster aussieht. Da sitzt
Elke nun mit dem Baby in ihrer Wohnung und wenn sie zum Einkaufen geht, muss
sie jeden Pfennig zweimal umdrehen. Schöne Sachen zum Anziehen kann sie nicht
kaufen. Erstens gibt es selten welche und zweitens könnte sie sich das sowieso
nicht leisten. Sie ist froh, dass ihre Schwestern und die Mutter in der Nähe
wohnen, so kann sie wenigstens immer mal eine von ihnen besuchen, reden, eine
Tasse Kaffee trinken, eine Zigarette rauchen.
Oft geht sie zu
Ana. Die Beiden sind leidenschaftliche Halmaspielerinnen. Elkes kleiner Sohn,
liegt derweil ruhig in der Sofaecke und starrt in die Luft oder er schläft
einfach. Kurz vor Feierabend, bevor
Fritz aus der Werkstatt kommt, hören sie mit dem Spielen auf. Elke geht
nach Hause und Ana fängt langsam mit der Hausarbeit an. So sieht es für Fritz
immer so aus, als hätte er eine unglaublich fleißige Frau geheiratet.
Elke bekommt eine
Stelle in derselben Schule, in die sie früher gegangen ist. Ihr Studium als
Lehrerin konnte sie abschließen, für den Kleinen bekommen sie einen Platz in
der Kinderkrippe zugeteilt und der Rubel kann zu rollen beginnen. Da geschieht
das Unfassbare. Die Untersuchung des Kleinen für seinen Start in der Krippe
endet mit einem vernichtenden Urteil.
Das Kind soll
geistig behindert sein. Elke und Hannes und alle anderen wollen es nicht glauben.
Sie ziehen einen Spezialisten hinzu, aber die Auskunft wird nicht besser.
Natürlich finden sich sofort Leute, denen die stoische Ruhe des Kleinen schon
immer verdächtig vorgekommen ist und anderen will die seltsame Stellung seiner
Augen aufgefallen sein. Das Kind hat sich langsamer entwickelt als andere, das
stimmt. Es hat fast nie geweint, Es hat viel geschlafen, selten gelächelt –
alles stimmt, aber warum soll es denn nicht normal sein? Warum ausgerechnet
unser Kind, denken die jungen Eltern immer und immer wieder. Die unheilvolle
Diagnose wirft auf der Stelle alle ihre Pläne völlig durcheinander. Das Kind
wird, so die Auskunft der Ärzte, die meisten Dinge des Alltagslebens nur mit
fremder Hilfe bewältigen können. Ihnen wurde nahe gelegt, es bald in ein Heim
zu geben. Die Eltern sind erschüttert
und auch empört und sie wissen, dass sie
d a s nie machen werden. Nicht,
solange sie leben.
Wieder haben „die
Leute“ dazu ihre eigene, andere Meinung. Die Einen finden es lobenswert und
meinen bedauernswert, andere finden es unverantwortlich, weil sie allen Ernstes
annehmen, im Heim könne das Kind besser gefördert werden und wenige sagen auch,
dass sie es genauso machen würden. Doch die Eltern und die Schwestern stehen zu
Elke und bieten ihr alle Hilfe an.
Elke wird wieder
schwanger. Sie ist erschrocken darüber, sie wollte kein weiteres Kind. Sie hat
genug mit dem Jungen zu tun und keine Zeit für ein Baby. Sie und Hannes können
sich nicht erklären, wie es passieren konnte, aber es ist. Die Ärztin, von der Elke
die unerwartete Nachricht erfährt, hatte sie beruhigt, ihr Mut zugesprochen.
„Es ist gut, wenn
sie noch ein Kind bekommen, glauben sie mir. Es wird für sie gut sein und auch
für den Vater. Und besonders für ihren Jungen.“
„Aber ich will kein
Kind. Und was ist, wenn es auch behindert ist?“
„Glauben sie fest
daran, dass es normal ist. Wenn ich es recht verstanden habe, hat ihr Junge
keine Erbkrankheit? Es passiert nämlich äußerst selten, also fast nie, dass das
Kind nach einem behinderten Kind auch eine Behinderung hat. Fassen sie Mut!“
Elkes Mutter sagt
auch: „Sei froh, meine Kleine. Glaub mir, das Kind wird euer großes Glück und
ihr werdet das Unglück leichter ertragen können.“
Welches Unglück
nur, denkt Elke. Bis jetzt ist ihr Sohn kein Unglück für sie. Ganz im
Gegenteil. Sie liebt ihn unbändig und manchmal, ganz selten zwar, aber
immerhin, lächelt er sie ein bisschen an. Dann durchströmt sie ein ganz warmes
Gefühl, sie drückt das Kind an sich und ist unglaublich glücklich.
Elke hat im fünften
Monat eine Fehlgeburt. Das Kind wäre ein Mädchen gewesen. Das hat ihr eine
Freundin verraten, deren Schwester im Krankenhaus auf der Gynäkologischen
Station arbeitet. Sie ist sehr traurig, denn inzwischen hatte sie sich so sehr
auf das Kind gefreut. Immer wieder hatte sie ihrem Jungen von der kleinen
Schwester erzählt, die er bald haben würde. Irgendwie war sie sich sicher
gewesen, dass es ein Mädchen sei. Und nun wäre es wirklich ein Mädchen gewesen
und sie wird es niemals sehen.
Als sie nach ein
paar Tagen aus dem Krankenhaus kommt, ist etwas mit ihrem Sohn passiert. Sie
weiß nicht, was es ist, aber etwas ist anders als zuvor. Wenn sie ihn berührt,
zuckt er zusammen und schlägt nach ihr. Elke versucht, ihn zu streicheln und
redet ihm gut zu, aber sie hat damit keinen Erfolg. In ein paar Tagen, denkt
sie, wird es schon wieder gehen. Im Unterleib hat sie noch Schmerzen von der
Fehlgeburt, von ihrer Seele ganz zu schweigen.
Da wird Hannes
plötzlich sehr krank. Er wird sofort ins Krankenhaus eingewiesen und operiert.
Elke besucht ihn, sooft sie eine Betreuung für den Kleinen findet. Dann sitzt
sie für eine stunde an seinem Bett, erzählt von dem Sohn, von den Verwandten
und sie legt ihm eine Bonbonschachtel in den Nachttisch. Mit zwei Zigaretten
darin. Zwei für mehrere Tage, bis sie wieder kommt. Er wird sie heimlich nachts
auf dem Klo rauchen, die Augen schließen und eine Weile denken, er wäre zu
Hause. Hannes wird zum Glück doch recht
schnell wieder gesund und Elke ist froh, dass alles so gut gegangen ist. Schon drei Monate nach der Operation zwingt
ihn die gleiche Krankheit erneut in die Klinik, dieses Mal aber für eine sehr,
sehr lange Zeit.
Und danach ist
nichts mehr so, wie es einmal war. Hannes darf nicht mehr arbeiten gehen. Er
versorgt nun den Haushalt und kümmert sich um den Jungen. Er bringt ihn an drei
Tagen in der Woche zum Förderunterricht, an einem weiteren Tag müssen sie zum
Arzt und ein Tag ist frei. Elke hat eine Halbtagsstelle angenommen, die ihr
sehr viel Spaß macht und natürlich ein paar Mark zusätzlich zu Hannes Rente und
dem Pflegegeld für das Kind einbringt.
Wenn sie am frühen Nachmittag nach Hause kommt, hat Hannes die Termine
mit dem Jungen bereits erledigt, alles ist sauber gemacht und eingekauft hat er
auch. Das ist an den meisten Tagen so. Manchmal allerdings steht Hannes morgens
gar nicht auf. Dann hat seine Krankheit wieder die Oberhand gewonnen, Elke muss
in der Schule Bescheid geben, mit dem Jungen zum Arzt gehen und den Haushalt
versorgen. Wenn der Junge nur nicht so abweisend wäre. Selbst wenn sie mit ihm
spielen will, stößt er sie weg. Sitzt
lieber im Schneidersitz auf seinem Bett und starrt die Wand an. An solchen
Tagen weiß sie nicht, was sie machen soll. Ihre Nerven sind zum Zerreißen gespannt.
Sie möchte das Kind rütteln und schütteln, um es aus dieser Starre zu reißen,
möchte den Mann aus dem Bett schmeißen, wo er unausgesetzt schläft. Möchte
endlich ein normales Leben haben, wie alle anderen. Sie schließt sich im Bad
ein, setzt sich auf den Badewannenrand und die Tränen rinnen in Sturzbächen
über ihr Gesicht. Sie muss sich am Rand der Badewanne festkrallen, um nicht in
ihrer ohnmächtigen Wut den Spiegel zu zerschlagen oder das Waschbecken.
Marinas Großer
kommt manchmal zu Elke und Hannes um mit dem Sohn zu spielen. Die beiden haben
sich ein wenig angefreundet, ihnen scheint der Unterschied zwischen Normal und
Behindert egal zu sein. Elke hat, wenn sie die Beiden heimlich beobachtet,
sogar das Gefühl, ihr Sohn sei nie „normaler“, als in seinem Spiel und
besonders im Spiel mit seinem Cousin und Freund. Es scheint, als sei es nur ein
kleines Stück von Irgendwas, das Elkes Kind anders gemacht hat. Nicht tauglich
für das Leben nach der Kindheit. Nicht tauglich, jemals allein sein zu können.
Seit Marinas Sohn
sich so liebevoll um den Kleinen kümmert, können Elke und Hannes wieder ab und
zu ausgehen.
Sie gehen zu
Einladungen und manchmal ist es da richtig schön, weil Hannes ein sehr lustiger
Erzähler ist. Besonders im Erzählen von unanständigen Witzen ist er
unschlagbar.
An diesem Abend bei
den Freunden ist niemandem nach Witzen zumute. Die politische Lage zwischen den
Großmächten sozialistische Sowjetunion und kapitalistische USA ist wiederholt
besonders angespannt. Überall, in den Schulen und in den Betrieben wird
belehrt, wie man sich bei einem Atomangriff zu verhalten habe. Man musste
auswendig lernen, dass man beim Betreten von verseuchtem Gebiet mindestens
einen Mundschutz zu tragen habe, dass das Wasser nach einem Atomschlag nicht
getrunken werden darf, dass die Atomschutzbunker erst verlassen werden dürfen,
wenn es Entwarnung gibt. Dass aber all dies sinnlos sein würde, durfte man
nicht sagen, denn dann wäre sofort die Hölle los gewesen und man hätte an
Sonderkursen zum Atomschutz teilnehmen müssen.
Plötzlich steht die
Frage im Raum: Was machst du, wenn es losgeht? Worum kümmerst du dich? Wie
stellst du es dir vor?
Alle blicken
gleichzeitig fassungslos oder angewidert zu dem Fragenden. „Bist du wahnsinnig?“
Zögernd ergreift
aber dann doch einer nach dem anderen das Wort, um seine Meinung
kundzutun. Die einhellige Meinung
lautet: wir müssen in der Familie zusammenbleiben, egal was
passiert. Sich um den Partner und die Kinder zu kümmern, sei das einzig
Wichtige überhaupt.
Hannes jedoch
schaut provozierend in die Runde, als er allen Ernstes verkündet, er würde sich
nur noch um sich kümmern. Würde versuchen einen Unterschlupf zu finden. Alles
andere sei Illusion.
Elke ist entsetzt
und fassungslos.
Am folgenden Tag
will sie ihn zur Rede stellen, wird jedoch sehr schroff abgewiesen.
Plötzlich tut es
Elke nicht mehr so weh, wenn seine Krankheit wild auflodert und ihn mit
heftigen Schmerzen attackiert. Sie hilft ihm natürlich und tut alles, was in
ihrer Macht steht, aber sie tut es mit der Ruhe einer Krankenschwester und auch
mit deren Gefühlen.
Wieder wird Hannes
operiert und alle hoffen, dass es ihm danach besser gehen wird, aber das tut es
nicht.
Hannes stirbt.
Lena
Der Junge, der Lena
im Sicherheitsabstand von 5 Metern hinterher läuft, sitzt in der Klasse zwei
Reihen vor ihr. Er ist ein Stückchen
kleiner, was bei Lena nicht schwer ist, denn zu ihrem Leidwesen ist sie die
Größte in der Klasse. Sie dreht sich um und steckt ihm die Zunge heraus, weil
er sie eben mit „He, dein Ranzen ist offen, es fällt alles raus!“ geärgert hatte.
Schließlich merkt man, wenn der Ranzen offen ist, so ein Blödmann. Als sie den
Kopf wieder nach vorn dreht, muss sie feixen. Sie sonnt sich in dem Gefühl,
dass der Junge sich mit ihr abgibt. Das passiert Lena nicht oft. Die anderen
Mädchen in der Klasse werden viel öfter von den Jungen geneckt, besonders Gabi
von Jürgen. Auf Gabi ist Lena neidisch. Sie sieht toll aus, hat immer chice
Klamotten an und wie gesagt, der Jürgen. Lena hat keinen Freund, nicht mal ein
bisschen und überhaupt gibt sich selten mal ein Junge mit ihr ab. Es liegt
daran, dass sie zu groß und nicht hübsch ist. Das ist sicher.
Aber ausgerechnet
der jetzt? Nett ist er ja, aber so klein. Fast einen halben Kopf kleiner als
sie und dann so dünn, fast nur halb so dick wie sie. Wie soll das aussehen?
Sie necken sich
noch viele Wochen auf dem Schulweg, bis der Junge sie eines Abends nach einer
Faschingsfeier in der Schule ein Stück weit nach Hause bringt. Bei der
Verabschiedung zieht er sie an ihrem Mantelkragen zu sich heran und Lena bekommt
die Panik, weil sie mit dem Schlimmsten rechnet, mit einem Kussversuch, doch
das bleibt ihr zum Glück erspart. Bestimmt weiß Dietmar auch nicht, wie es
geht. Er stupst sie mit seiner Nase an, kommt nur bis an ihr Kinn und sagt:
„Warum musst du nur so groß sein?“ „Weiß
auch nicht“ sagt Lena schnell und enttäuscht, macht sich los und geht die
letzten paar Schritte zu ihrem Hoftor. So ist der erste Freund schon gleich
wieder passé.
Die Jungs, die ihr
gefallen würden, interessieren sich nie für sie. Der Peter würde ihr gefallen,
er ist sehr groß, hat wildes, blondes Haar und blaue Augen, aber der ist zu
aufdringlich. Er ist neu in die Klasse gekommen und wurde neben sie gesetzt. Er
hätte doch neben seiner Schwester sitzen können, seiner Halbschwester, und außerdem
wird gemunkelt, dass sie es zusammen machen. Was richtig, ist nicht bekannt,
aber es ist jedenfalls sehr verdächtig. Peter hilft Lena andauernd, was sie gar
nicht will. Sie knurrt ihn böse an, beleidigt ihn, wird ihn aber nicht los.
Schließlich fasst sie sich ein Herz und bittet die Lehrerin, dass sie ihn weg
setzt. Sie hält es nicht aus, er ist widerlich! Und eklig! Und als sie das endlich geschafft hat,
irritiert sie ein wundersamer Traum. Peter ist darin wieder ganz lieb zu ihr,
doch sie knurrt ihn nun nicht an und hat
im Gegenteil die schönsten Verliebtheitsgefühle, die sie sich im Moment
vorstellen kann. Aber gleich am Morgen schüttelt sie das alles wieder ab. Er
ist nun mal eklig, der Peter.
Der Rainer. Er ist
wesentlich älter, mindestens drei Jahre. Sie ist fünfzehn und er bei der Armee.
Sie haben sich schon geküsst und er läuft fünfzehn Kilometer in seinen
Armeestiefeln zum Bahnhof um zu ihr zu kommen und mit Lena gemeinsam in ein
Konzert zu gehen. Wundervolles Gefühl.
Marina, Lenas
Tante, spielt ein bisschen die Kupplerin. Sie wollen alle zusammen, Marina und
Lena, Marinas dritter Mann, ihre vier Jungs und Rainer, ins Betriebsferienheim
fahren. Doch – es ist nicht zu fassen – Marinas dritter Mann wird eifersüchtig!
Auf den Rainer, den jungen Spund. Er vereitelt alles und somit ist er
verantwortlich, dass Lena in diesem Sommer nicht entjungfert werden kann.
Lena geht zum
Studium, besser, sie wird hingefahren, denn die Eltern begleiten ihre Älteste
auf den Weg ins Leben. In der kahlen Internatswohnung, die sich sechs Mädchen
teilen sollen, ist sie schon angekommen, Gitta. Sie will gerade losgehen, um
eine Teekanne zu kaufen – auch sie braucht ein bisschen was persönliches hier
in der Fremde, obwohl sie schon einige Jahre älter ist. Gitta ist sehr nett und
Lena ist kein bisschen traurig, als die Eltern am Abend wieder nach Hause
fahren. Die Mädchen leben sich schnell ein, gehen gemeinsam zu den Vorlesungen
und in die Mensa und an den Abenden in den Club. Eine von ihnen, die Marion,
hat einen festen Freund, der sie ab und zu besuchen kommt. Dann verschwinden
die Beiden im gemeinsamen Schlafzimmer der Mädchen, wo man sie nicht stören
sollte. Denn die Marion spielt sich ganz schön auf. Sie kam nicht direkt von
der Schule zur Uni, sie hat vielmehr schon eine Lehre hinter sich. Deshalb
kommt sie sich schon viel wertvoller vor, immerhin hat sie bereits zur
arbeitenden Klasse gehört. Die in der Lehre erworbenen Kenntnisse helfen der
Marion ein halbes Jahr gut über die Runden, doch dann ist das Eingemachte alle
und sie muss selber ran. Das hält sie nicht lange durch und danach sind sie nur
noch zu Fünft.
Lena lernt wieder
einen Freund kennen. Den Dieter. Wieder ist er nicht ihr Typ, aber eine
Konkurrenz sieht sie nicht und so geht Lena mit ihm. Wenn sie abends aus dem
Kino oder aus einer Kneipe zum Unigelände laufen, erklärt der Dieter ihr
mehrdimensionale Räume, denn er will Mathematiker werden. Lena tut so, als
verstünde sie, was er ihr vermitteln will, aber im Grunde ist es ihr
stinklangweilig.
Sie gehen in sein
Internatszimmer, das er alleine bewohnt und liegen auf seinem Bett. Sie küssen
sich und keiner weiß richtig, was man noch machen könnte. Beide sind noch
Jungfrau. Trotzdem erhitzen sich ihre Gemüter, das Bett gerät ins Wackeln und
kracht zusammen, da die Beine – vier Stapel aus Ziegelsteinen, ihrem
Herumwälzen nicht standhalten können. Sie bauen es wieder auf, nachdem sie sich
ausgelacht haben und versuchen weiter, Liebe zu machen. Jedenfalls die
Entjungferung gelingt ihnen nicht.
Dieter wohnt nicht
so weit weg von zu Hause wie Lena, deshalb ist er öfter als sie am Wochenende
bei seinen Eltern. An einem dieser Wochenenden beschließt Lena, ihren Dieter zu
besuchen. Evi nimmt sie mit, sie fahren per Anhalter. Evi ist sowieso ein
Traum. Groß und blond mit langen Haaren, eine tolle Figur und sexy ist sie
natürlich auch. Bis auf groß ist Lena nichts davon. Sie bewundert Evi und ohne
sie wäre sie im Leben nicht per Anhalter gefahren. Irgendwann auf der Autobahn
trennen sich jedoch ihre Wege, jetzt muss Lena alleine weiter. Was sie nicht
für möglich gehalten hätte, auch für sie hält einer an. Obwohl sie kurze braune
Haare hat statt lange blonde.
Es ist, so will es
wohl das Schicksal, wieder ein Wicht. Dummerweise ein böser Wicht. Denn
unterwegs biegt er plötzlich von der Straße in einen Feldweg ein. Lena bereut
schnell ihr ganzes Leben und besonders dieses blöde Trampen. Der Typ legt ihr
sein kleines Händchen auf den Schenkel, sie schiebt ihn weg. Er signalisiert
klar und deutlich, wie es auch kleinen Männern eigen ist,
was er von Lena
will. Sie sagt, sie könne jetzt nicht und sie will sich mit ihm treffen. Damit
er nicht wütend wird und sonst was mit ihr macht. Sie steigt aus und zum Glück
lässt er sie in Ruhe. Er fährt noch ein Stück neben ihr her bis sie wieder auf
die Straße kommen, bietet ihr an sie trotzdem mit zu nehmen, aber Lena lehnt
dankend ab. Da braust er glücklicherweise davon.
Und es hält wieder
einer, den Lena eigentlich nur fragen wollte, wie weit es noch bis zur Stadt
ist. Da er auf sie einen beruhigenden Eindruck macht, steigt sie dann doch ein
und fährt mit. Rein äußerlich ist das mal wenigstens ein richtiger Mann. Am
Fahrbahnrand kommen ihnen drei junge Frauen entgegen, die der Mann wohl kennt,
denn sie winken und gucken vielsagend. Jetzt wird er sich auch noch
rechtfertigen müssen, warum er mich hässlichen Vogel neben sich hat, schämt
sich Lena, lässt sich am Bahnhof absetzen und sucht den Weg zu Dieters Haus.
Sie beten vor dem
Essen und Lena bekommt das Zimmer seiner Schwester, die nicht zu Hause ist,
weil sie ebenso wie er irgendwo studiert. Sie haben Zimmer wie früher, weiße
Kommode, weißes Bett und ein Waschtisch. Lena gefällt diese Einrichtung gut.
Wenn sie in der Nacht noch mal zu Dieter will, schließlich kann er es ja nicht
im Bett seiner Schwester machen, oder
aus seinem Zimmer in ihres, dann muss sie durch ein anderes Schlafzimmer
hindurch. Darin schläft ein kleineres Mädchen und Lena muss sehr leise sein,
obwohl sie sich in der fremden Wohnung bei der Dunkelheit kaum zurechtfindet.
So richtig trauen sie sich nicht, was zu
machen. Sie liegen angezogen auf dem Bett und knutschen nur und streicheln
sich. Es ist mitten in der Nacht und Lena schläft manchmal ein. Dann erwacht
sie wieder und sie streicheln sich weiter. Irgendwann muss sie dann doch zurück
in ihr Zimmer, damit es nicht auffällt.
Dieter beginnt auf
einmal enthusiastisch von der Kirche zu predigen. Mit derselben Leidenschaft,
die noch vor einer Zeit seinen mehrdimensionalen Räumen galt, versucht er
jetzt, Lena zum Christentum zu bekehren. Dabei muss er das gar nicht, denn Lena
ist schließlich auch getauft und so weiter, nur dass sie eben nicht in die
Kirche geht. Dieter will jedenfalls ab jetzt in die Kirche gehen und sich auch
weitergehend damit beschäftigen, aber Lena will das nicht. Sie trennen sich in
einer endlosen Nacht, in der Lena denkt, den Schmerz würde sie nie überwinden
und die damit endet, dass sie den Dieter zum Bahnhof bringt, damit er nach
Hause in seine Kirche fahren kann, vor allem zu dem Mädchen das im Kirchenchor
auf ihn wartet, darin ist sie sich sicher. Lenas Augen sind kaum zu sehen, weil
das ganze Gesicht vom Heulen zugeschwollen ist. Sie kauft ihm eine Rolle Kekse
für die Fahrt und als er weg ist und sie zurückgeht, wird ihr eigenartig leicht
ums Herz.
Lena hätte es nie
für möglich gehalten, doch ihr Bruder beginnt sein Studium auch an ihrer Uni. Das ist gut, denn es bringt die Beiden einander deutlich näher. Zu
Hause waren sie mehr verfeindet, als befreundet. Doch plötzlich, in der Fremde,
verstehen sie sich eins A. Er kommt in Lenas Wohnung zum Duschen, weil es in
seinem Internat nur eine einzige Dusche für fünfzehn Jungs gibt. Sie wandert
mit ihm und seinen Kommilitonen sonntags ins Nachbardorf zum Klöße essen und im
Februar ziehen alle zusammen zum Fasching. Es ist eine schöne Zeit, wenn man
mal das Studieren selbst außer Acht lässt.
Bei ihm in der
Seminargruppe ist einer, der Lena sehr gefällt. Er ist etwas älter als die
anderen, riesengroß und keine landläufige Schönheit, aber Lena mag ihn sehr und
besonders sein etwas schnoddrige Art. Aber er … schwärmt für Mädchen mit roten
Haaren. Wohl doch eher wohl für die ihnen zugesprochenen sexuellen Reize und er
war schon mal mit einer richtigen Frau zusammen.
Er küsst Lena ein
bisschen und sagt, sie sei viel zu schade für ihn. Und das sei der Grund,
weshalb er nicht mit ihr gehen könne. Es ist traurig!
Eines Abends im
Club lernt Lena ihr zukünftiges Schicksal kennen. Sie hat sich unwissend auf
seinen Platz gesetzt.
Um sie von seinem
Stuhl weg zu kriegen, fordert er sie zum Tanzen auf. Er sieht gut aus, also
kann Lena frech sein, wie die Hölle, denn der will sowieso nichts von ihr. Sie
hat ihn noch nicht gesehen und nimmt an, er sei ein Neuer. Großspurig muss sie
ihm erstmal erläutern, wie man sich im
Krankheitsfalle zu verhalten habe. Genau wie sie nämlich, denn sie hatte sich
am Vormittag dieses Tages einen Krankenschein geholt. Ein Clubabend und nicht
nur einer, das ist die beste Medizin. Der Neue ist beeindruckt.
Sie tanzen einige
Runden, Lenas Gefühl hat ihn schon okkupiert. Dann fordert er Gitta auf. Warum
das denn? Lenas Gefühl signalisiert Eifersucht. Als Gitta wieder zurück ist,
lässt Lena vorsichtshalber einige wohlüberlegte Gehässigkeiten über den
Grünschnabel los. Gitta fragt, wen sie meint, denn der mit dem sie beide
getanzt haben, der ist im letzten Studienjahr und danach wird er Doktor.
Doktor?
Lenas
Geltungsgefühle signalisieren: faß!
Sie gehen
miteinander. Jeden Abend kommt Thomas ins Studierzimmer, hilft ihr bei den
Aufgaben und dann machen sie sich auf den Weg in die Stadt Dort gehen sie ins
Kino oder trinken ein Bier oder sie laufen nur so herum und Lena schwärmt von
ihrem zukünftigen Küchenfenster, wenn sie mal eine eigene Wohnung haben werden.
Man muss Glück haben, um vor den anderen Mädchen, die entweder im Club oder
auch in der Stadt sind, zurück ins
Internat kommt. Denn dann kann man das Wohn- und Lernzimmer besetzen, einen
Stuhl unter die Klinke stellen, damit die nächste merkt, dass besetzt ist und
ungestört auf dem sechsten Bett, dass sie aus dem Schlafzimmer hierhin
umgeräumt hatten (dem Bett von Marion) knutschen und so weiter. Sie ziehen sich
nicht aus um sich zu lieben, nein, das trauen sie sich nicht. Aber streicheln,
küssen, Knutschflecke machen oder vermeiden und streicheln, streicheln … Thomas
ist ein Ausdauerschmuser. Manchmal fleht Lena ihn an, endlich zu gehen, weil
sie müde ist und schlafen will, dann geht er auch. Aber nie, bevor er es nicht
selber will. Allein dass Lena es möchte
reicht nicht. Zieht er dann endlich tief in der Nacht um zwei oder halb
drei von dannen, ist Lena manchmal den Tränen nahe vor Todmüdigkeit. Sie lässt
ihn aus der Tür und nicht selten brennt auf dem Korridor schon Licht. In der
Wohnung gegenüber geschieht im selben Moment nämlich auch die Verabschiedung.
Alle vier lächeln sich verschwörerisch an und die Nacht zum Schlafen kann
endlich beginnen.
Es ist Herbst. Lena
redet immer öfter von Verlobungsringen. Sie ist nämlich schon eine richtige
alte Jungfer und es muss endlich was passieren. Sie kaufen Ringe und setzen sie
sich zu Silvester desselben Jahres gegenseitig auf. Dass so eine Aktion Lenas
Vater unter Umständen einen Herzinfarkt bescheren könnte, haben sie natürlich
nicht in Betracht gezogen. Es geschieht ja auch nicht. Er kracht nur aufs Sofa
und kommt aufgrund seines Holzbeines vom Krieg nicht so schnell wieder hoch.
Ihre Mutter Ana
hatte Lena eingeweiht, obwohl es eine Überraschung werden sollte. Ihr Vater
hätte eine kleine Andeutung nötiger gehabt, das kapiert sie nun.
Lena ist froh, dass
sie immerhin schon ein Stück weit unter der Haube ist. Von Mutter Ana hat sie
gelernt, dass alle Männer gleich seien. Man müsse sich ihnen halt anpassen und
ansonsten froh sein, wenn sie einen nicht zu sehr ärgern und was das wichtigste
ist, dass sie einen unterhalten können. Im finanziellen Sinne versteht sich.
Lena sieht sich als sitzen gelassene alte Jungfer, wenn sie diese große Chance
ihres Lebens nicht wahrnimmt.
Es ist Frühlingt,
Lena arbeitet in einer anderen Stadt und sie sehen sich nur an den Wochenenden.
Da wo sie arbeitet, gibt es viele interessante Männer. Besonders ältere als sie selbst haben es ihr angetan.
Für einen, den unerreichbarsten, schmilzt sie dahin. Sie tut alles erdenkliche,
um seine Aufmerksamkeit in ihre private Richtung zu lenken. Sie ist verliebt.
Der (verheiratete) Mann fühlt sich geschmeichelt ob ihrer Jungend und lässt
sich gern anhimmeln. Obwohl sie ihn dazu kriegt, mit ihr ins Kino zu gehen,
obwohl er sie von einer Betriebsfeier ein Stück weit zu ihrem Zimmer begleitet
und sie auf dem dunklen Weg küsst und ihre Brust befummelt, passiert weiter
nichts. Lenas Sehnsucht gipfelt auch gar nicht darin, ihn in ihr gemietetes
Bett zu ziehen. Sie würde es zwar gut finden, wenn er in dieser kühlen Nacht
mit zu ihr käme, gleichzeitig aber ängstigt sie sich vor dem, was dann im
fremden Bett in der fremden Wohnung, in der sie vorübergehend lebt, passieren
würde. Sie weiß nicht, ob sie ihn dann auch noch so anziehend fände und vor
allem - er. Was würde er denken, wenn sie in ihrer hässlichen Nacktheit bei ihm
läge? Dem tiefen Wunsch nach diesem Manne entsagen zu müssen, ist wohltuend
schmerzhaft und als Lena an der Haustür ankommt, ist sie froh dass er nicht
mehr dabei ist, denn sie muss sich übergeben.
Am Wochenende fährt
sie zu ihrem Verlobten und sie redet mit ihm. Sie erzählt ihm nichts von dem
anderen Mann, aber sie versucht, ihn dazu zu bringen, dass er sagt, sie sollten
sich trennen. Thomas sieht das nicht so. Er sagt, dass er sie liebt und ihm
kommen sogar die Tränen dabei. Davon ist Lena so gerührt, dass sie beschließt
bei ihm zu bleiben. Wer A sagt muss auch B sagen, lautet ihre innere Devise – wenigstens in dieser
entscheidenden Nacht.
Dieser andere Mann
hat außerdem eine Geliebte, eine Ärztin, und er schläft auch schon bei ihr.
Seine Frau will sich von ihm trennen, aber er mag es nicht, weil er seine
kleine Tochter nicht verlieren will. So überlegt er noch hin und her, welche
Liebe größer sei. Die zu Lena, sofern sie überhaupt vorhanden ist, spielt dabei
keine Rolle. Diese Neuigkeit erfährt sie von einem Anderen, einem bei dem sie
keine Eigenwerbung nötig hätte. Er würde liebend gern ein Verhältnis mit Lena
anfangen und mit ähnlichen Methoden wie sie ihren Schwarm bezirzen wollte,
versucht er es bei ihr. Er macht ihr Komplimente und schöne Augen, berührt
unter den gegenüberliegenden Schreibtischen ihre Füße mit seinen und versucht
sie bei jeder von anderen unbeobachteten Gelegenheit zu küssen. Obwohl Lena ein
anderes Ziel im Auge hat, genießt sie Das Werben des Mannes sehr. Noch nie
zuvor in ihrem Leben hat sie erlebt, dass sich einer so um sie bemüht hätte.
Sie lässt sich auf einem gemeinsamen abendlichen Nachhauseweg nach der
Spätschicht in der Dunkelheit unter einer Brücke von ihm an die feuchte Mauer
drücken, lässt sich küssen und anfassen. Er greift drängend unter ihren kurzen
Rock, zwischen ihre Schenkel. Da Lena aber weder sexuelle Lust verspürt,
noch weiß, wie man ES im stehen macht,
wehrt sie ihn letztendlich ab und spielt die Treue. Die Strumpfhose ist der
Attacke zum Opfer gefallen und wie um sich selbst zu strafen, lehnt sie einen
Ersatz großzügig ab.
Schließlich schafft
er es, Lena in seine Wohnung zu locken. Sie solle bei der Begrüßung nur laut
genug für Lauscher hinter den Türen etwas von entliehenen Büchern sagen, denn
der Mann ist als Bücherleser bekannt (hatte ja vor ihr auch schon ein
Verhältnis mit einer Buchverkäuferin) und so würde kein Verdacht im Haus
aufkommen. Sie macht alles so, wie vereinbart. Die Kinder des Mannes, ein
kleines Mädchen und ein kleiner Junge, sind zu Hause, aber seine Frau nicht.
Lena macht sich darüber keinerlei Gedanken, denn alles ist bisher harmlos und
sie beabsichtigt, dass es so bleibt. Sie sieht sich mit den Kindern Fotoalben
an und spielt ihren ganzen Charme als coole Kinderfreundin aus. Der Mann macht
derweil Schnittchen und nachdem die Kinder ins Bett gegangen und zehnmal wieder
aufgetaucht sind, ist Ruhe eingetreten. Die Ehefrau des Mannes kommt nun auch
nicht mehr zurück, wie er sagt. Der Mann und Lena haben etwas Wein getrunken
und davon wird Lena anschmiegsam und weniger ablehnend. Sie lässt sich von ihm
ins Schlafzimmer tragen, nicht ohne zu betonen, dass sie doch viel zu schwer
sei. Lässt sich entkleiden, wobei er erwähnt, dass er sowieso morgen die Betten
abziehen muss und ist froh, dass sie einen halbwegs ordentlichen Slip anhat,
der ihr aber trotzdem noch lange nicht das Gefühl vermitteln kann, in
irgendeiner Weise sexy zu sein. Der Mann tobt sich gewissermaßen an Lena aus.
Die lässt es geschehen und findet es überhaupt nicht so toll und umwerfend, wie
es die seltenen Filmszenen, die sie zu diesem Thema gesehen hat, vermuten
lassen.
Er fragt sie noch,
wie sie dem Verlobten so unbekümmert untreu sein könne. Lena erwidert, dass sie
ja schließlich noch nicht verheiratet sei. Sie findet nichts dabei. Sie
empfindet nichts. Da schläft er schon längst.
Lena und Thomas
beschließen zu heiraten. Lena ist es, die dazu drängt. Will sie den dauernden
Nachfragen von zu Hause endlich etwas entgegnen können? Oder will sie einfach
nur endlich verheiratet sein. Scheinbar
will sie es hinter sich bringen.
Zur Hochzeit, die
wie üblich bei der Braut stattfindet, kommt der Bräutigam auf den letzten
Drücker. An den Vorbereitungen kann er sich nicht mehr beteiligen, weil so gut
wie alles schon perfekt ist. Dementsprechend k.o. ist Lena. Sie hat geputzt,
als ginge es um ihr Leben mit dem Resultat, dass sie zur Hochzeit dunkle
Augenringe haben wird und auf der Stelle
einschlafen möchte.
Die
Schwiegerfamilie kommt in ihrem kleinen Pappauto angerollt, die Schwiegeroma
muss mit dem Zug fahren, aber sie ist es ja gewöhnt. Lena fühlt sich von lauter
Gästen umgeben. Selbst ihre Schwestern sind Gäste und sie selbst, eine der zwei
Hauptpersonen, Ist Dienerin der Gäste. Sie kommt nicht dazu, glückliche Braut
zu spielen, soviel hilft sie ihrer Mutter beim Räumen, Tisch decken, auftafeln.
Denn sie kann es nicht ertragen, Ana als ihre Magd zu sehen.
Am Morgen der
Hochzeit beleidigt sie ihren Vater so sehr, dass es fast zum Eklat kommt. Wer
ihn womit an einem Wutanfall gehindert hat, soll Lena nie erfahren. Sie hat es
abgelehnt, sich von ihm zum Standesamt fahren zu lassen, weil ihr sein
Alkoholpegel vom Vorabend, dem Polterabend, noch viel zu hoch erschien. Dabei
weiß jeder, das Anas Mann, der das Holzbein aus dem Krieg mitgebracht hat,
hundert mal sicherer im Auto ist, als auf seinem einen richtigen Bein, wenn er
nicht mehr sicher ist. Jedenfalls beschämt Lena ihn sehr. Sie steigerte sich
hinein in den Gedanken, er würde sie und Thomas und ihr ganzes zukünftiges
Glück, auf das sie unbedingt hofft, in Schutt und Asche fahren.
Sie stehen vor dem
Standesbeamten, der Vater ist natürlich doch gefahren, und Lena hört
widerwillig und leicht belustigt darauf, was der sagt. In ihr steigt die Angst
auf, als ihr wohl zum ersten Mal seit der Entscheidung zu heiraten, die
Zeitlosigkeit dieses Aktes bewusst wird und seine Unabänderlichkeit. Sie geht
sofort auf innerliche Gegenwehr und entgegnet dem Vollzieher in einem stillen
Dialog, für immer müsse es nicht sein,
man kann sich schließlich scheiden lassen, wenn es nicht geht.
Vielleicht hätte der Beamte das mit den schlechten Zeiten nicht sagen sollen.
Für Augenblicke klopft ihr Herz wie wild bei dem Gedanken, jetzt einfach NEIN
zu sagen. Doch sie kann es den anderen nicht antun und sie selbst würde es
sofort danach bitter bereuen und nicht wissen, wie es zurück zu nehmen sei.
Denn sie liebt Thomas doch und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass die
Liebe über ihn zu ihr zurückkommt. Sie hat eine Heidenangst, dass dies nicht
geschehen wird. Ich kann mich immer
wieder scheiden lassen, beruhigt sie sich und sie bekommt statt des erhofften
innigen Kusses, den sie aus Filmhochzeiten kennt, einen schmallippigen,
flüchtigen Kuss von Thomas. Es ist ihr,
als würde er sich dafür schämen. Trotzdem ist sie heilfroh, JA gesagt zu haben.
Endlich wieder an
der Luft! Der Trubel um die Hochzeit und die vielen Verwandten, die sie unten
auf dem Marktplatz erwarten, erzeugen in der frischgebackenen Ehefrau
unangenehme Gefühle. Sie möchte so schnell es geht, in der Menge untertauchen
und begibt sich, von Thomas untergehakt, die Treppe hinunter. Mit einem
giftigen Zischen in der Stimme, als er sagt, sie solle gefälligst nicht so
rennen, gepaart mit einem breiten Grinsen für die Menge bringt sie ihr Mann
fast zum Heulen. Es erfordert eine immense Kraftanstrengung für Lena, nicht
hier auf dem Markt auf der Treppe vor allen Leuten in Tränen auszubrechen. Das
fängt ja gut an.
Aufgrund des
Trauscheines haben Thomas und Lena jetzt Anrecht auf eine gemeinsame Wohnung.
Nur eine kleine, weil sie noch keine Kinder haben. Sie beginnen ihren Hausstand
zu gründen mit einem Eisenbett vom Boden, einem ausgedienten Tisch nebst zwei
wackligen Stühlen und einer ersten Anschaffung, einer Stereoanlage. Lena findet
es spannend, ihren Namen überall ändern zu lassen, die neue Unterschrift zu
üben, und nicht mehr Fräulein Soundso zu heißen, sondern Frau.
Aber sie wird nicht
schwanger. Schon lange lieben sie sich nicht mehr nach Lust, sondern nach dem
Kalender. Jeden Monat neues Bangen und jeden Monat dieselbe Bescherung.
Manchmal verspätet sich ihre Periode um zwei, drei Tage, dann schwebt sie auf
Wolke Sieben und schmiedet sofort Pläne für das Kind, doch sobald sie sich
sicher ist, schwanger zu sein, ist sie es nicht mehr.
Wer dieses Hoffen
und Warten schon einmal miterlebt hat, kennt sich aus.
„Ihr müsst es bei
Gewitter machen und bei dem größten Blitz muss er kommen.“
„Du musst ihn
festklammern und nicht weglassen, wenn er gekommen ist.“
„Üben, üben – nicht
aufgeben!“ hört sie von älteren Kolleginnen, von der Mutter, den Tanten.
Alles für die Katz.
Lena und Thomas
denken darüber nach, ein Kind zu adoptieren. Sie erkundigen sich nach den
Regeln und Voraussetzungen und sind kurz davor, eine Anlaufstelle für
Kinderadoption zu kontaktieren.
Mit dem
glücklichsten Gesicht der Welt kommt Lena Thomas, der neben dem Auto steht,
entgegen. Er guckt ungläubig, schon springt sie ihn an und klammert sich ganz
fest an ihn. „Ja“ sagt sie leise an seinem Ohr, da drückt er sie schon wieder
leicht von sich, hält sie auf Abstand fest um sie dann seinerseits an sich zu
ziehen. Er bestimmt, wann liebkost wird. Aus dem Handschuhfach holt er einen
winzigen Blumenstrauß, worüber Lena so gerührt ist, dass sie die kleine
Missstimmigkeit von eben sofort vergisst. Stracks fahren sie in die nächste
Stadt um für Lena Schuhe mit einem vier Zentimeter hohen Absatz zu kaufen, denn
das ist die optimale Höhe für Schwangere, wie sie erst kürzlich in einer
Illustrierten gelesen hat. Die frohe Kunde wird umgehend zu Hause verbreitet
und am nächsten Tag schleppt ein Kollege für die schwangere Lena einen Stuhl
heran, denn sie hatten alle schon längst
gesehen, was los ist. Lenas Hintern war angeblich breiter geworden. Eine
Tatsache, die sie in dem Augenblick eher stolz machte, als störte.
Die Geburt ihrer
Tochter Sophie ist einer der zwei beglückendsten Momente in Lenas Leben. Der
zweite ist die Geburt eines winzig kleinen Sohnes drei Jahre später. Damit ist
Thomas’ Familienplanung abgeschlossen. Lena wünschte sich vier Kinder, aber die
Hebamme hatte bei der Geburt des Jungen orakelt: „ Noch eins überstehen sie
nicht.“ Das machte Lena Angst und bestätigte Thomas Vorstellungen.
„Hier“ sagt Lena
„kriegt mich keiner wieder raus. Es sein denn, mit den Füßen zuerst.“
Sie sagt es, als
sie den ersten Tag in ihrem neuen alten Haus verbracht hat. Thomas musste zur
Arbeit, die Kinder sind in der Schule, aber sie, Lena, hat Urlaub. Eine volle
Woche Urlaub um die Schränke einzuräumen und Ordnung herzustellen. Selig vor
lauter Glück, räumt sie ein und aus, schiebt Möbel und macht Pläne.
Zwischendurch kocht sie sich einen Kaffee, den sie Im Wohnzimmer vor der großen
Terrassentür sitzend und in den wilden Garten blickend langsam und zutiefst
glücklich trinkt.
Jede Arbeit dieser
Tage im Haus erscheint ihr wie eine heilige Handlung. Mit allen Fasern ihres
Herzens hatte sie sich gewünscht, eines Tages in einem eigenen Haus zu wohnen.
Mit einem Garten darum, einem Hof. Sich endlich Zuhause fühlen. Jetzt war sie am Ziel ihrer Wünsche angelangt.
Thomas war lange Zeit immer dagegen gewesen. Dann, irgendwann, hatte sie ein
kleines Zipfelchen Entgegenkommen bei ihm entdeckt und an dem hat sie so lange
gezerrt, bis er seine Einwilligung, seine Zustimmung, seine ungeteilte
Unterstützung und vollen Einsatz signalisierte. Dafür liebt sie ihn und ist ein
weiteres von vielen, vielen Malen froh, nicht doch alles aufs Spiel gesetzt zu
haben. Das letzte Mal hätte es passieren können, als Lena sich wenige Wochen
nach dem Hauskauf wieder einmal hoffnungslos verliebte. Erst waren sie wochen-
und monatelang durch die ganze Gegend gezogen auf der Suche nach einem
geeigneten Objekt. Und wie üblich konnten sie sich nicht einigen. Einmal war
Thomas der Zustand zu erbarmungswürdig, das andere Mal gefiel Lena die Gegend
nicht. Dann, endlich, stand es vor ihnen. Am Stadtrand, weit hinten in einem
verwilderten Garten, seine einstige Schönheit konnte man nur ahnen. Das war es!
Natürlich viel zu heruntergekommen nach Thomas Meinung. Aber Lena konnte sich
letztendlich durchsetzen. Mit viel Diplomatie. Sie tat so, als würde sie das
Haus zwar interessieren, aber nicht zwingend. Sie sahen sich noch das eine oder
andere Objekt an, verglichen Preise, Zustand und Ausstattung und immer wieder
brachte Lena das Gespräch auf dieses eine Haus ihrer heimlichen Wahl. Mit
verdeckten psychologischen Methoden bohrte sie den Gedanken daran irgendwie in
Thomas Gehirn und da sie letztendlich auch kein Haus finden konnten, dass
billiger gewesen wäre, hatte sie gewonnen.
Da geschah es. Lena
lernte sie auf einer Dienstreise kennen. Sie
setzte sich zu ihr an den Frühstückstisch, sie kamen ins Gespräch und
als Lena später erschreckt auf die Uhr schaut, ist der vereinbarte Termin in
der Firma schon heran. Dabei wollte sie noch mal ins Zimmer, hatte noch zu
telefonieren. Theresa bot ihr an, sie schnell in die Firma zu fahren und im
Auto verabredeten sie sich für den Abend desselben Tages. Was Lena niemals für
möglich gehalten hatte, war passiert. Sie hatte sich in eine Frau verliebt. Es
folgten drei Tage, oder besser gesagt Nächte, mit endlosen Gesprächen und
vielen wunderschönen und einfühlsamen Zärtlichkeiten. Lena verlängerte
kurzerhand ihren Aufenthalt in dem Hotel bis zum Sonntag, worüber Thomas sich
sehr gewundert haben muss. Lena und Teresa
gehen ins Theater, gehen am shoppen, sehen in einer Galerie moderne
Gemälde und Plastiken an. Am Sonntagmittag müssen sie aus dem Hotelzimmer
hinaus, sie laufen noch durch die Stadt und durch die Weinberge bis Theresa
sagt, dass der Preis zu hoch wäre. Denn auch sie lebt in einer Beziehung,
allerdings zu einer Frau. Sie will sie nicht verlassen. Auch Lena will bei
Thomas bleiben. Theresa bringt Lena zum Bahnhof, sie umarmen sich, sie weinen
nicht. Theresa geht.
Langsam gewöhnt
sich Lena an das Glück in dem neuen Haus. Sie gehen zu einem aufgeteilten,
geregelten Leben über. Thomas arbeitet draußen, Lena ist für drin zuständig.
Wenn es um Gestaltungsfragen geht, kriegen sie sich regelmäßig in die
Haare. Aber das mit ihnen eingezogene
Hochgefühl überdeckt noch alles.
Sie gehen auch ab
und zu wieder ins Kino wo sie an einem kalten Novemberabend den Film „email for
you“ sehen. In Lena erwacht – zum
wievielten Mal in ihrem Leben – eine Sehnsucht, die sie immer wieder in Besitz
nimmt, solange sie denken kann. Sehnsucht nach Romantik, nach dem Gefühl, heiß
und innig zu lieben und ebenso geliebt zu werden. Nach der großen Liebe ihres
Lebens. Auch nach Abenteuer. Lena ist fünfundvierzig und es ist an der Zeit,
dass sie ihr Leben infrage stellt. Fürs erste entscheidet sie sich zu einem
Spiel. Wie Meg Ryan in dem Film spielt sie im Internet mit ihren Reizen und vor
allem mit anderen Wesen, vornehmlich männlichen. Eine ungeahnte Flut von
Begehren, Bewunderung und Anbetung überschwemmt ihre Fenster im Chat. Es ist nur
ein Spiel, denkt Lena immer wieder, aber sie genießt dieses Spiel bis zur
Selbstverleumdung. Sie gibt sich jünger, als sie ist. Zuerst 20 Jahre jünger,
dann nur noch zehn, dann fünf. Der Zuspruch lässt nicht nach. Im Gegenteil.
Selbst als sie in ihren Fenstern vierzig ist, hat sie genügend Auswahl an
jungen Männern, die mit ihr in Kontakt treten möchten. Ungeahnt tief sind die
Einblicke, die sie in die fremden Seelen gewährt bekommt und ungeahnt viel gibt
sie von sich preis. Fernen Seelen.
Thomas bemerkt ihre
Veränderung, schließlich spricht sie oft genug darüber. Er sieht es als
Zeichen. Möchte ihrem gemeinsamen Leben mehr Inhalt geben, sie gehen aus, gehen
ins Kino, machen einen spontanen Kurzurlaub. Er schenkt ihr Parfüm und Dessous.
Doch Lena sieht ihn nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben kann sie nicht aus
einem kurzen Ausflug ihrer Gefühle zurück zu ihrer Familie, zu Thomas finden. Und sie versucht es auch nicht.
Ihr Leben und vor
allem aber ihr Denken reduzieren sich auf die Chats im Internet. Mit jungen
Männern im Kopf geht sie spät in der Nacht schlafen und wacht morgens
mit den Gedanken an sie auf. Bald werden auch Telefonnummern ausgetauscht, sie
wird angerufen, bekommt SMS auf das
Handy, es entstehen persönliche Kontakte zu realen Menschen.
Mit strengen
Maßnahmen, die in ohnmächtiger Wut gipfeln, versucht Thomas seine Lena zurück
zu gewinnen. Durch Manipulationen an der Telefonanlage beflügelt er sie zu
technischen Höchstleistungen um sich wieder mit der Welt verbinden zu können. Seine Verbote und Wutausbrüche bewirken das
Gegenteil von dem, was er erzwingen will. Endlich ist sie nicht mehr auf seine
Gunst und Zuwendung hungrig und angewiesen, denn davon bekommt sie genug aus der
ganzen weiten Welt.
Lena verliebt sich
in eine der Imaginationen richtig. Mit Schmetterlingen und Appetitlosigkeit im Bauch. Sie weiß nicht
wie er aussieht, kennt nur seine Stimme am Telefon. Wenn sie mit ihm
telefoniert, ist sie allein zu Haus. Sie zittert, wenn sie seine Nummer wählt
und sie zittert vor dem Gedanken, er könne sie abweisen. Mehr noch als vor dem
Gedanken, er könne nicht zu Hause sein und ihre wunderbare Chance würde
ungenutzt vergehen. Sie reden über alles
Mögliche, lachen viel. Sie mag sein Lachen sehr, besonders mag sie natürlich
sein Lachen über ihre witzigen Sprüche. Thomas lacht darüber kaum.
Er erzählt viel von
sich, der allein lebt, wie ein einsamer Wolf und immer flüchtet, wenn er
geheiratet werden soll. Sie gesteht ihm, dass sich in ihrem Leben nichts ändern
soll außer in der Liebe. Sie möchte einen Traumprinzen zu allem anderen noch
hinzu. Er sagt, solange sie fünf Zipfel an der Decke wolle und sich nicht für
vier entscheiden könne, könne sie nicht glücklich werden.
Er sagt, welches
Parfüm, welche Bücher, welche Sachen er liebt und all das kauft sie für sich.
Er ist so groß wie
Thomas, es ist so gewissenhaft wie er und er fährt das gleiche Auto. Ihr
Verstand weiß, dass es mit ihm nicht anders wäre. Ihr Gefühl liebt ihn
unsterblich. Vielleicht nur, weil sie die Realität nicht kennt. Bestimmt nur
deshalb, sie will es nicht wissen.
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